Regierungssprecher Piotr Müller trat am Dienstagabend vor die Presse.

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Straßensperre in Przewodów.

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Rauchwolke über Przewodów, von Nowosiółki aus gesehen.

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IN KÜRZE
Was wir wissen

- Gegen 15.40 hat es am Dienstag in der polnischen Ortschaft Przewodów mindestens eine Explosion gegeben.
- Laut polnischer Feuerwehr gab es dabei zwei Tote.
- Der polnische Sicherheitsrat trat um 19 Uhr zusammen, der Ministerrat um 21 Uhr. Danach erhöhte Warschau die militärische Bereitschaft, vor allem bei der Luftraumüberwachung.
- Polens Außenministerium sprach danach vom Einschlag einer Rakete "aus russischer Produktion" und lud Russlands Botschafter vor.
- Das Pentagon, das Weiße Haus und das US-Außenamt gaben sich abwartend, man prüfe die Berichte.
- Russland weist die Verantwortung zurück, die Ukraine weist sie Moskau zu. US-Geheimdienstquellen machten Russland anfangs in inoffiziellen Statements verantwortlich, offiziell später aber nicht.
- Die Nato-Botschafter treten Mittwoch zu Konsultationen zusammen. Polen erwägt die Ausrufung von Artikel 4 des Nato-Vertrags, um Konsultationen offiziell einzufordern.

Was wir nicht wissen
- Um welche Raketen es sich konkret gehandelt hat.
- Ob es Angriffs- oder Abwehrraketen waren und wer sie abgeschossen hat.
- Ob sie absichtlich oder versehentlich am Ort des Geschehens gelandet sind.
- Welche Reaktion es konkret geben wird.


Warschau – Nachdem am Donnerstagnachmittag bei Explosion im ostpolnischen Dorf Przewodów zwei Menschen ums Leben gekommen sind, hat die Regierung in Warschau am Abend die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Zu Mittag wird der Nationale Sicherheitsrat zusammentreten, um weitere Maßnahmen zu beschließen.

Außerdem habe man gemeinsam mit den Nato-Verbündeten beschlossen, zu bei einem für Mittwoch einberufenen Treffen zu überprüfen, ob es Gründe gebe, ein Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten, sagte Regierungssprecher Piotr Müller. Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht.

Rakete "aus russischer Produktion"

Premier Premier Morawiecki bestätigte dies zu nächtlicher Stunde in einem Statement. Er kündigte weitreichende Ermittlungen an, gab sich mit konkreten Erklärungen oder gar Schuldzuweisungen aber sparsam. Zudem forderte er die Menschen in Polen zur Geduld auf und dazu, nur bestätigten Meldungen zu folgen. Zuvor hatte sein Außenministerium die Einberufung des russischen Botschafters angekündigt, und zwei Todesopfer beim Einschlag einer Rakete "aus russischer Produktion" bestätigt, wie man vorsichtig – und womöglich vieldeutig – formulierte.

In Sozialen Medien verbreitete Bilder zeigen Trümmer, die offenbar von einer S-300-Luftabwehrrakete stammen. Diese Waffen werden von beiden Kriegsparteien zur Bekämpfung angreifender Flugkörper verwendet, Russland hat damit mangels geeigneterer Munition auch schon mehrmals Bodenziele beschossen. Wie aktuell die Bilder sind und ob sie wirklich aus Przewodów stammen, war nicht zu überprüfen.

Die russische Armee hatte am Dienstag die Ukraine mit Raketen und Marschflugkörpern beschossen. Auch die westukrainische Stadt Lwiw war Ziel russischer Angriffe. Bürgermeister Andrij Sadowij sprach von Schäden am Energiesystem.

Russland sieht Provokation

Während im Westen von einer möglichen Provokation durch Moskau die Rede war, wies das russische Verteidigungsministerium die Anschuldigungen zurück und sprach ebenfalls von einer gezielten Provokation.

Der österreichische Politikwissenschafter und Russlandexperte Gerhard Mangott sprach am Abend von einer "geringen Restwahrscheinlichkeit, dass es ein absichtlicher Beschuss war". Sollte es sich um russische Raketen gehandelt haben, dann wären es am ehesten Irrläufer, sagte Mangott zum STANDARD. "Aber Irrläufer, die zeigen, wie schnell der Krieg eskalieren könnte, auch wenn niemand die Eskalation beabsichtigt." Moskau müsse sich in diesem Fall umgehend entschuldigen.

Ukraine will mehr Flugabwehr

Die Ukraine hatte zuvor eine geeinte Reaktion gegen Russland gefordert. Ein NATO-Gipfel unter Teilnahme der Ukraine sollte weitere Schritte ausarbeiten, hatte Kuleba am Dienstag vorgeschlagen. An den Vorfall in einem grenznahen Dorf in Ostpolen mit zwei Toten knüpfte er die Forderung nach besserer Flugabwehr und US-Kampfjets der Typen F-15 und F-16 für Kiew. "Heute bedeutet Schutz für den Himmel der Ukraine auch Schutz für die NATO", schrieb Kuleba auf Twitter.

EU sagt Polen Unterstützung zu

Die Europäische Union steht nach den Worten von EU-Ratspräsident Charles Michel an der Seite Polens. Er stehe zudem mit den polnischen Behörden, Mitgliedern des Rates und anderen Verbündeten in Kontakt, schrieb Michel auf Twitter.

Litauen, Lettland, Estland, Norwegen, Belgien und Tschechien erklärten in ersten Reaktionen, sie bemühten sich um weitere Informationen. "Russlands Leichtsinnigkeit gerät außer Kontrolle", schrieb der slowakische Verteidigungsminister Jaroslav Naď auf Twitter.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich betroffen. "Wir beobachten die Situation genau und stehen in Kontakt mit unseren polnischen Freunden und Nato-Verbündeten", schrieb sie am Dienstagabend auf Twitter. Die Nato hatte zuvor bekannt gegeben, dass sie Berichte über die tödliche Explosion prüfen werde.

Auch das Pentagon erklärte, Berichte über den Raketeneinschlag prüfen zu wollen. Die Presseberichte seien dem Pentagon bekannt, sagte ein Sprecher in Washington. Zum jetzigen Zeitpunkt habe das Ministerium aber keine Informationen, die diese Berichte bestätigen könnten. "Wenn wir ein Update zur Verfügung stellen können, werden wir dies tun."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, es habe sich um russische Raketen gehandelt. Damit eskaliere die Lage, und es müsse eine Reaktion geben. Die Ukraine habe seit langem davor gewarnt, dass sich die russischen Aktionen nicht auf die Ukraine beschränken würden. (bed, schub, APA, Reuters, 15.11.2022)