Momentan steht der Nato-Artikel 4 im Zentrum der Aufmerksamkeit.

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Die Nato-Staaten beraten auf formale Art und Weise, wie sie mit einer möglichen Bedrohung umgehen – nicht mehr und nicht weniger besagt Artikel 4 des Nordatlantikvertrags des Verteidigungsbündnisses, den Polen nach der Explosion infolge eines Raketeneinschlags in Grenznähe zur Ukraine auslösen möchte. Das ist nicht weiter überraschend, stehen die Nato-Partner für gewöhnlich ohnedies in engem Kontakt und tauschen sich regelmäßig aus. Um zehn Uhr wird es eine Nato-Dringlichkeitssitzung geben. Die Diplomatinnen und Politiker beraten dann erst einmal.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg leitet die Dringlichkeitssitzung.
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Es wäre nicht das erste Mal, dass Artikel 4 in diesem Krieg zur Anwendung kommt und der Konsultationsmechanismus ausgelöst wird – auch dies geschieht einstimmig. Unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine beantragten am 24. Februar 2022 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Tschechien solche Konsultationen. Die Türkei hatte Artikel 4 2021 beantragt, als türkische Soldaten durch syrischen Beschuss auf Nato-Boden getötet wurden. Auch damals wurde beraten, der in Artikel 5 geregelte Bündnisfall kam aber auch damals nicht zum Tragen. Es gibt also keine zwingende Reaktion, die aus dem Vorhaben miteinander zu sprechen resultiert. Im Wortlaut besagt Artikel 4:

"Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist."


Erst ein Artikel-5-Fall

Dass die Unversehrtheit des polnischen Staatsgebiets seit Kriegsbeginn durchaus potenziell gefährdet ist mit dem primären Kampfgebiet Ukraine, aber auch dem offiziellen Kriegstreiber Russland sowie dem inoffiziellen Kriegsteilnehmer Belarus als Nachbarn, scheint logisch. Für einen Artikel 5 sind die Hürden beziehungsweise die Schwelle zu dessen einstimmiger Ausrufung aufgrund des Eskalationspotenzials aber deutlich höher. Im Wortlaut besagt Artikel 5:

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.

Artikel 5 nützt also das in der Uno-Charta festgeschriebene Recht auf kollektive, also gemeinschaftliche Selbstverteidigung. Dieser Logik folgend müsste ein gezielter Angriff auf das Staatsgebiet vorausgegangen sein. In der Geschichte des seit 1949 bestehenden Verteidigungsbündnisses wurde dieser Bündnisfall erst einmal ausgerufen, nämlich am 4. Oktober 2001. Damals stimmten einstimmig alle 19 Mitgliedsstaaten infolge der Terroranschläge vom 11. September für den Bündnisfall.

Dass die aktuell 30 Mitgliedsstaaten wegen des rezenten Vorfalls in Polen den Bündnisfall ausrufen, gilt aus äußerst unwahrscheinlich bis ausgeschlossen – dass sie den Konsultationsmechanismus ausrufen, schon als wahrscheinlicher.

Warum die Nato gegründet wurde und wieso sie im Krieg zwischen Russland und der Ukraine eine Rolle spielt.
DER STANDARD

EU-Beistandspflicht

Eine Beistandsverpflichtung gibt es übrigens auch in den EU-Verträgen. Diese besagt, dass die anderen EU-Staaten dem angegriffenen Mitgliedsstaat ihre Hilfe schulden. Ob diese militärisch sein muss oder nicht, steht dort nicht. Die Staaten tun alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten und dies automatisch, im Gegensatz zur Nato, wo dies nur nach einem einstimmigen Beschluss geschehen kann:

"Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen." (Fabian Sommavilla, 16.11.2022)