Im Gastblog analysiert der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger, wie sowohl der Iran als auch die Türkei innenpolitische Konflikte auf kurdische Gebiete auslagern.

Beide kurdisch dominierten Autonomiegebiete stehen derzeit unter enormem Druck ihrer Nachbarstaaten Iran und Türkei. Während der Iran den Kurden die Schuld an den Protesten in die Schuhe zu schieben versucht und Camps iranischer Kurden im Irak angreift, droht die Türkei mit einem erneuten Einmarsch in Nord- und Ostsyrien. Diesmal scheint Kobanê ins Zielfernrohr gerückt zu sein.

Iran: Proteste als Kurdenaufstand framen

Die Führung der Islamischen Republik Iran versucht seit Beginn der Proteste im Iran, diese als ethnisch motivierte kurdische Proteste zu framen. Tatsächlich waren und sind die Proteste zwar in den kurdischen Gebieten, aus denen die am 16. September durch die iranische Sittenpolizei getötete Jina Amini stammte, besonders stark, allerdings wurden schon in den ersten Tagen nach Aminis Tod alle größeren iranischen Städte von Demonstrationen gegen die Polizeibrutalität und das Verhüllungsgebot erfasst.

Dass sich dabei nicht nur in den kurdischen Gebieten des Iran, sondern zum Beispiel auch in Balutschistan schon lange bestehende ethnische Autonomieforderungen mit den Forderungen nach mehr Freiheit für die Frauen mischen, ist nur logisch, bedeutet aber nicht, dass die Proteste bloß ethnische Minderheiten erfasst hätten.

Da es für das Regime allerdings sehr viel leichter wäre, territorial beschränkte Autonomieproteste zu unterdrücken als gesamtiranische Proteste, bestand von Anfang an ein Interesse der iranischen Regierung, diese den Kurden in die Schuhe zu schieben. Genau dies ist der Hintergrund für immer wieder stattfindende Angriffe auf Einrichtungen iranisch-kurdischer Exilparteien in der Autonomieregion Kurdistan im Irak.

Im Wesentlichen haben alle wichtigen iranisch-kurdischen Parteien ihre Basen in Irakisch-Kurdistan. Die erst seit August wiedervereinigte Demokratische Partei Kurdistan Iran (Partiya Demokratîk a Kurdistana Îranê, PDKI) hat ihre wichtigsten Lager in der Nähe der Stadt Koya, und die in drei rivalisierende Teile gespaltene linke Komala hat ihre Camps in der Qaradagh-Bergregion südwestlich von Suleymania, beide im Herrschaftsgebiet der irakisch-kurdischen PUK. Die Kurdische Freiheitspartei (PAK) hat ihr Hauptquartier bei Erbil, der von der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) kontrollierten Hauptstadt Irakisch-Kurdistans. Dazu kommt noch die Partei für ein Freies Leben (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê, PJAK), die als Schwesterpartei der türkisch-kurdischen PKK von den Qandil-Bergen im iranisch-irakischen Grenzgebiet aus operiert.

All diese Parteien haben sich mit dem Beginn der Proteste im Iran bemerkenswert zurückgehalten. Obwohl sie alle über bewaffnete Kräfte verfügen, versuchten sie mit ihrer Zurückhaltung die Proteste nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen eskalieren zu lassen, sondern als das zu belassen, was sie sind: eine zivile Protestbewegung aus der Basis. Selbstverständlich beteiligen sich an dieser auch Mitglieder dieser Parteien, keine dieser Parteien ist aber stark genug, solch eine massive Protestbewegung zu inszenieren. Ohne den spontanen Unmut über den Tod von Jina Amini und die in der Folge aufgetretenen Repressionsmaßnahmen wäre es nie zu diesen Massenprotesten gekommen.

Sunnitische Moschee in der iranisch-kurdischen Stadt Mahabad, einer Hochburg der kurdischen Bewegung.
Foto: Thomas Schmidinger

Angriffe auf irakisches Staatsgebiet

Dass insbesondere die Gebiete der Kurden im Westen und der Balutschen im Südosten des Landes sowohl von Protesten als auch von noch härterer Repression betroffen sind, hat wohl auch damit zu tun, dass es sich dabei um die einzigen mehrheitlich sunnitischen Gebiete des Iran handelt, was diese beiden Minderheiten der schiitischen "Islamischen Republik" noch einmal zusätzlich suspekt macht.

Wohl auch deshalb versucht nun das iranische Regime mit den Bombenangriffen auf Positionen der iranisch-kurdischen Parteien, diese in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu ziehen und gegenüber der eigenen Bevölkerung die Proteste als Verschwörung kurdischer Parteien mit ausländischen Kräften darzustellen. Zuletzt griff der Iran am 14. November mit ballistischen Fateh-110-Raketen und Drohnen das Hauptquartier der PKDI bei Koya und fünf weitere kleinere Basen iranisch-kurdischer Oppositionsgruppen an. Mindestens zwei Tote und acht Verletzte blieben bei diesem jüngsten Angriff zurück.

Darunter leiden nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch die Autonomieregion Kurdistan. Raketen- und Drohnenangriffe bedeuten hier zum Beispiel, dass manche europäischen Fluglinien ihre Flüge einstellen oder dass sich Investoren noch einmal überlegen, ob sie in eine dermaßen instabil wirkende Region investieren wollen.

Auch in der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil wurden schon iranisch-kurdische Ziele angegriffen.
Foto: Thomas Schmidinger

Dass dabei auch die irakische Regierung nur sehr verhalten protestiert, liegt nicht nur an den proiranischen Kräften innerhalb der Regierung, sondern auch am permanenten Konflikt zwischen Erbil und Bagdad. Eine Regierung, die in Kurdistan kaum präsent ist, bemüht sich auch kaum darum, Souveränitätsverletzungen des Irak zu ahnden. Auch türkische Angriffe auf Stellungen der PKK, die immer wieder auch Zivilistinnen und Zivilisten treffen, werden von Bagdad meist nicht entschiedener beantwortet als die Angriffe aus dem Iran. Die Türkei hält im Norden der Autonomieregion einige Berggebiete besetzt und kämpft hier auf irakischem Territorium gegen die PKK.

Drohender Angriff auf Kobanê

Die Türkei ist es auch, die nun erneut das Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) bedroht. Nachdem die türkische Armee gemeinsam mit syrisch-islamistischen Milizen bereits Anfang 2018 die kurdische Region Afrin besetzte und im Oktober 2019 einen Grenzstreifen zwischen der Kobanê und der Jezira besetzte, bedroht die Türkei nun insbesondere die Region Kobanê, die 2014 vom "Islamischen Staat" angegriffen worden war.

Nach dem Anschlag vom 13. November in Istanbul präsentierte die türkische Polizei innerhalb von weniger als 24 Stunden eine angebliche Attentäterin, die ausgesagt haben soll, von der PKK ausgebildet worden zu sein und im Auftrag von Hintermännern aus Kobanê gehandelt zu haben. Sowohl die PKK als auch die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens wiesen diese Behauptungen als völlig absurd von sich.

Dass es sich bei der angeblichen Attentäterin um eine Araberin und keine Kurdin handelt und niemand in Kobanê jemals etwas von dieser Frau gehört hat, spielt für die türkische Regierung keine Rolle. Im Vorfeld von Wahlen wurde die Politik von Präsident Erdoğan immer gegenüber seinen Nachbarn aggressiver. Schließlich lassen sich mit Krieg und Patriotismus in der Türkei immer noch ein paar Stimmen für den aufgrund der Wirtschaftskrise schwer angeschlagenen Präsidenten machen.

Auch wenn wohl nicht so schnell zweifelsfrei belegbar sein wird, wer nun den Anschlag wirklich verübt hat und wer die Hintermänner dabei waren, so steht jetzt schon fest, dass die türkische Regierung diesen rasch und effizient nutzt, um gegen kurdische Oppositionelle vorzugehen.

Die Drohungen Erdoğans richteten sich dabei in den letzten Monaten nicht nur gegen Nord- und Ostsyrien, sondern auch gegen Armenien und vor allem gegen Griechenland. Kobanê steht allerdings schon länger auf der Wunschliste des türkischen Expansionismus. Mit einer Besetzung Kobanês würde erstens das Prestigeprojekt der Autonomen Verwaltung, die nach der Befreiung der Region vom IS sehr viel in den Wiederaufbau der Stadt investiert hat, vernichtet und zweitens eine Landverbindung zwischen den beiden türkisch besetzten Gebieten in Nordsyrien geschaffen werden.

Erst im Juli feierte die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens ihr zehnjähriges Bestehen.
Foto: Thomas Schmidinger

Kobanê wäre auch ein vergleichsweise einfaches Ziel für Erdoğan. Nach dem von Trump angeordneten "Abzug" der US-Truppen sind diese nur noch im Osten des Landes präsent und haben ihr Hauptquartier bei Hasaka aufgeschlagen. In Kobanê sind nur russische und syrische Truppen stationiert, wobei die türkische Armee schon in der Vergangenheit immer wieder auch syrische Regierungssoldaten ins Visier genommen hat.

Erneute Vertreibungen?

Da wohl auch in Kobanê, wie zuvor in Afrin, die kurdische Bevölkerung vertrieben würde, würde damit zugleich auch Platz für die forcierte Repatriierung syrischer Flüchtlinge geschaffen. Die Türkei hat schon in den letzten Monaten immer wieder arabische Flüchtlinge aus Syrien mit mehr oder weniger starkem Druck zur "Rückkehr" bewegt – einer Rückkehr eben nicht in ihre Herkunftsregionen, sondern in kurdische Gebiete, die zuvor ethnisch gesäubert wurden.

Damit werden nachhaltige demografische Veränderungen geschaffen, die nicht nur völkerrechtswidrig sind, sondern auch neue Flüchtlinge erzeugen. Auch die Flüchtlinge aus Kobanê würden wohl auf kurz oder lang zu großen Teilen in Europa landen. (Thomas Schmidinger, 16.11.2022)