Biodiversität zu schützen ist nicht nur eine ethische Frage, es geht auch um konkreten gesellschaftlichen Nutzen, der unter dem Begriff Ökosystemleistungen zusammengefasst wird. Damit sind neben Nahrungsmitteln auch Rohstoffe wie Holz oder Stoffe mit medizinischen Anwendungen gemeint. Viele dieser Leistungen sind bei einer Verringerung der Biodiversität gefährdet.

Das Risiko für die Biodiversität bewertet jedes Jahr der Österreichische Biodiversitätsrat. Anlässlich des fünften Forums zu Biodiversität und Ökosystemleistungen stellt die Plattform ihre Einschätzung der Biodiversitätspolitik in Österreich in Form des Biodiversitätsbarometers 2022 vor: 27 Expertinnen und Experten evaluieren jene politischen Pläne und Aktivitäten, die zum Stopp des Artenverlusts führen sollen. Für das Jahr 2022 wird eine Stagnation der politischen Bemühungen zum Schutz der biologischen Vielfalt verzeichnet. Nur wenige kleine Schritte zeigen in die richtige Richtung, große Maßnahmen lassen nach wie vor auf sich warten.

Brachflächen, Hecken oder Blühstreifen gelten in der Landwirtschaft als Sonderstrukturen, die besonders artenreich sind.
Foto: Smetana/Agentur Sylvia Petz

Nach mehrjähriger Covid-19-Pandemie nehmen im Jahr 2022 neue politische Krisen sowie daraus resultierende Energie- und Wirtschaftskrisen die Regierung voll in Anspruch. Die Klima- und Biodiversitätskrise ist in den Hintergrund gerückt, schreitet jedoch rasant voran. Der Gesamtblick auf das "Barometer zur Biodiversitätspolitik in Österreich" zeigt, dass "2022 bedauerlicherweise in 14 von 19 Punkten unserer Kernforderungen Stillstand eingekehrt ist", konstatiert Irmgard Greilhuber, Botanikerin an der Universität Wien und Mitglied des Leitungsteams des Biodiversitätsrats. "Letztes Jahr hatten wir bei der Vorlage der Biodiversitätsstrategie 2030 mit ihren ambitionierten Zielen noch große Hoffnung. Nachdem diese bis heute nicht beschlossen wurde, befürchten wir, dass das politische Engagement durch Widerstand verschiedener Interessengruppen neuerlich gebremst wurde." Die Verankerung des Biodiversitätsschutzes in allen politischen Handlungsfeldern ist nach wie vor nicht erfolgt. "Ohne Bundesrahmennaturschutzgesetz ist es nach wie vor schwierig, österreichweite Maßnahmen umzusetzen. Naturräume enden jedoch nicht an der Landesgrenze", ergänzt Alice Vadrot von der Universität Wien, die Mitglied im Leitungsteam des Biodiversitätsrats ist.

International aufschließen und Transparenz schaffen

Die EU-Biodiversitätsstrategie 2030 sieht einen effektiven Schutz von 30 Prozent des Landes und von zehn Prozent der terrestrischen Flächen vor. Auch in Österreich sind diese Ziele umzusetzen, wobei hier massiver Aufholbedarf besteht: "Im September 2022 hat die Europäische Kommission Österreich dazu aufgefordert, die Umsetzung der EU-Naturschutz-Vorschriften in nationales Recht zu verbessern, weil Österreich viele erforderliche Maßnahmen noch nicht umgesetzt hat", betont Andreas Tribsch, Evolutionsbiologe am Institut für Umwelt und Biodiversität an der Paris-Lodron-Universität Salzburg.

Ein weiteres vom Biodiversitätsrat gefordertes Instrument zur Förderung der Biodiversität in Österreich, der nationale Biodiversitätsfonds, wurde 2022 mit 80 Millionen Euro gestartet. "Die Dotierung für vier Jahre ist weit von der von uns geforderten Milliarde entfernt", erklärt Franz Essl, Ökologe an der Universität Wien und Mitglied des Leitungsteams des Biodiversitätsrats.

Insekten sind die artenreichste Tiergruppe der Welt. In Österreich findet ein Austausch von Insektenarten statt, heimische Arten werden durch Neuankömmlinge ersetzt.
Foto: Jan Habel

Drohender Verlust der Lebensgrundlagen

Im Jahr 2022 finden entscheidende Ereignisse zum zukünftigen Artenschutz statt. Die Weltgemeinschaft verhandelt konkrete Ziele für die globale Biodiversitätspolitik. Die daraus resultierenden Ziele sollen im Dezember 2022 im kanadischen Montreal beschlossen werden. "Die Polykrise aus Politik, Energie und Wirtschaft darf uns nicht vom Verlust unserer Lebensgrundlagen auf unserem Planeten ablenken. Wir müssen darauf konzentriert bleiben, die internationalen Anstrengungen zu nutzen, und endlich große Schritte im Biodiversitätsschutz machen", schließt Irmgard Greilhuber.

Am 17. November wird das Barometer zur Biodiversitätspolitik im Rahmen des fünften Österreichischen Forums zu Biodiversität und Ökosystemleistungen präsentiert. Die Veranstaltung findet dieses Jahr zum dritten Mal statt. (red, APA, 16.11.2022)