Speziell in deutschen Stadien wurde zuletzt vermehrt zum Boykott der WM in Katar aufgerufen.

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Klare Signale beim Bundesligaspiel Hertha Berlin gegen Köln vergangenen Samstag.

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Die nächsten Wochen werden entscheidend. Diesmal aber ganz bestimmt. Denn dann wird sich zeigen, wie es sich trotz immenser Boykottankündigungen für die WM in Katar tatsächlich mit dem TV-Konsumverhalten verhält. Fest steht schon jetzt, dass die Weltmeisterschaft im Wüstenstaat aufgrund des dubiosen Vergabeprozesses, massiver Menschenrechtsverletzungen, der miserablen Bedingungen für Gastarbeiter, eines fetten CO2-Fußabdrucks, der klimatischen Bedingungen und fehlender Stadiennutzungskonzepte die bisher umstrittenste aller WM-Endrunden ist.

Offen ist, inwieweit die beliebteste Teamsportart auf unserem Planeten Ressentiments zu verdrängen und die Zuschauerschaft in den Bann zu ziehen vermag, wenn die Spiele dann laufen. Bedenken und Proteste – wenn auch nicht in dem Ausmaß – gab es nämlich auch im Vorfeld und während der WM-Endrunden in Brasilien 2014 und Russland 2018, die jedoch mit Fortdauer der Veranstaltungen mehr und mehr verhallten.

Weitverbreitete Ablehnung in Österreich

Nach einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts Marketagent missfällt 82 Prozent von 1.000 befragten Österreicherinnen und Österreichern, dass die WM an Katar vergeben wurde. Acht von zehn Personen prangern auch generell den Entscheidungsprozess an, an welches Land eine Endrunde vergeben wird. Kritisiert wird, dass der Prozess weder fair noch objektiv verlaufe.

Das Interesse am Fußball generell ist hierzulande nicht zu unterschätzen. Immerhin 43 Prozent sympathisieren mit der beliebten Mannschaftssportart. Immerhin vier von zehn geben zudem an, an der WM in Katar interessiert zu sein.

Dennoch gibt es weitverbreitete Ablehnung. 79 Prozent würden es begrüßen, wenn Sponsoren und Unternehmen die WM boykottieren. 77 Prozent sind der Meinung, dass Fans nicht vor Ort dabei sein und die Spiele auch nicht im Fernsehen mitverfolgen sollen. Einen Boykott von Mannschaften und teilnehmenden Nationen würden 68 Prozent begrüßen.

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Vier von zehn wollen schauen

Besonders interessant wird es, wenn es um das persönliche Verhalten geht. So geben vier von zehn befragten Personen an, dass sie trotz all der Kritik die Spiele dennoch schauen und genießen wollen. 24 Prozent behaupten, dass sie die Matches weder in der Glotze noch vor Ort konsumieren werden. Zu berücksichtigen ist bei den Zahlen, dass Österreichs Nationalteam die Qualifikation für Katar verpasste und so generell etwas weniger Interesse an dem Großereignis besteht.

"Zusammengefasst orten wir wenig Freude über den Austragungsort. Wobei allen voran Unternehmen und Sponsoren in die Pflicht genommen werden sollten, ein Zeichen gegen Menschenrechtsverletzungen zu setzen", sagt Thomas Schwabl, Geschäftsführer von Marketagent. "Von den Mannschaften selbst wird hingegen am wenigsten erwartet, Boykott-Aktivitäten zu setzen."

Noch stärkere Ablehnung in Deutschland

Stärker als in Österreich ist der Vorbehalt in Deutschland – trotz oder gerade wegen der Beteiligung des DFB-Teams. Nach einer Infratest-dimap-Umfrage im Auftrag der "Sportschau" und des ARD-"Morgenmagazins" gedenkt nur ein Drittel von 1.225 Befragten, die WM zu verfolgen. 56 Prozent wollen die Übertragungen völlig ignorieren, 15 Prozent wollen "weniger Spiele" schauen, nur 18 Prozent "genauso viele" wie bei vergangenen Weltmeisterschaften. Neun Prozent sind noch unschlüssig.

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Der in Deutschland am weitesten verbreitete Ablehnungsgrund ist das Desinteresse am Spiel mit dem runden Leder allgemein (50 Prozent). Von jenen Fußballinteressierten, die die WM eingeschränkt oder gar nicht mitverfolgen wollen, geben 41 Prozent die politische Situation in Katar als Grund für die Ablehnung an. Auch der undurchsichtige Vergabeprozess (30 Prozent) und die Nachhaltigkeitsfrage der Stadien (22 Prozent) werden häufig als Grund genannt.

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Polarisierende Weltmeisterschaft

Fest steht, dass diese WM polarisiert wie keine andere. Deutschlands Fanvertreter Dario Minden vom Verbund "Unsere Kurve" sagte dem Nachrichtenportal t-online, dass er "keine Minute schauen" wolle und sich über alle freue, "die es genauso halten". Aber er fände es verkehrt, "den Leuten eine Moralpredigt zu halten, weil sie die Spiele schauen". Sylvia Schenk, Sportexpertin von Transparency International, geht davon aus, dass ein etwaiger Boykott nichts an der Situation der betroffenen Menschen in Katar ändern würde. Auch Amnesty International rief bisher nicht zu einem Boykott auf. Die Nonprofitorganisation weist jedoch seit Jahren auf die prekären Arbeitsbedingungen im Emirat hin. Letztlich müsse aber jeder für sich entscheiden, ob er die WM mitverfolgt oder nicht.

Englands Legende Gary Lineker ist jedenfalls sicher, dass der Fußball auch diesmal wieder viele Menschen trotz weitverbreiteter Ablehnung in den Bann ziehen wird, wie er in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" ausführte. "Machen wir uns nichts vor: Sobald der Fußball beginnt, wird er alles verschlingen." (Thomas Hirner, 16.11.2022)