Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg stand am Mittwoch im Fokus des globalen Interesses.

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Über das genaue Ziel der abgeschossenen Rakete, die am Dienstagnachmittag in Polen einschlug, wollte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor Abschluss der Ermittlungen nichts sagen. Er selbst jedoch hatte ein klares Ziel nach der eilig einberufenen Dringlichkeitssitzung im Brüsseler Hauptquartier der Verteidigungsallianz: die Beruhigung der Lage und der Gemüter. Zwei Menschenleben hatte die Explosion in der 400-Seelen-Gemeinde Przewodów nahe der ukrainischen Grenze gefordert. Einer Nacht voll Spekulationen, aufgeheizter Gemüter und heikler Diplomatie folgten am Mittwoch mehr Details, wonach es sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben dürfte, die im Nato-Land Polen einschlug.

Frage: Was weiß man mittlerweile über den Raketeneinschlag?

Antwort: Mehrmals verwies Nato-Generalsekretär Stoltenberg auf die "laufenden Ermittlungen", deren Abschlussbericht er nicht vorgreifen wolle. Sehr wohl aber machte er deutlich, dass aktuell alle Indizien für eine ukrainische Luftabwehrrakete des Typs S-300 sprechen. "Das ist aber nicht die Schuld der Ukraine", stellte er fest. Viel eher sorge Moskau mit seinem laufenden und großflächigen Beschuss des Landes unvermeidlich dafür, dass es zu solch gefährlichen Aktionen komme. Bevor die Nato zu diesem Schluss kam, drang schon aus Washington und Warschau durch, dass wohl keine Raketen aus Russland für den heiklen Zwischenfall verantwortlich waren. Kiew, das noch am Dienstagabend schwere Vorwürfe gegenüber Moskau erhob, blieb zunächst skeptisch. Der Sicherheitsrat des von Russland angegriffenen Landes forderte jedenfalls "sofortigen Zugang" zum Einschlagsort, empfahl eine gemeinschaftliche Ermittlung und beharrte darauf, dem Westen Hinweise auf eine "russische Spur" geben zu können. Russland reagierte mit Häme. Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sagte, die Ukraine habe immer in die Nato gedrängt, nun sei man eben mit Gewalt eingedrungen.

Frage: Ist die befürchtete Eskalation damit erst einmal vom Tisch?

Antwort: Die Lage ist und bleibt angespannt. Stoltenberg meinte, er wolle Zwischenfälle keinem Ranking unterziehen, als er danach gefragt wurde, ob dies die heikelste Phase der seit neun Monaten laufenden Invasion sei. Die ersten Reaktionen aus den Nato-Hauptstädten zeigen aber deutlich, dass der Westen an keinerlei Eskalation interessiert ist. Vor allem – und das war die zentrale Aussage der Stoltenberg-Pressekonferenz – gebe es keinerlei Indizien für einen vorsätzlichen Angriff Russlands auf polnisches Staatsgebiet und damit auch nicht auf Nato-Territorium. Polen habe deshalb aus eigenen Stücken auf den Konsultationsmechanismus im Nordatlantikvertrag verzichtet.

Frage: Was besagt dieser?

Polnische und US-amerikanische Ermittler waren am Dienstagabend im Einsatz, um die Überreste nach dem Raketeneinschlag auf Spuren zu untersuchen.
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Antwort: Artikel 4 ist so etwas wie der kleine, unbekannte Bruder des weitaus bekannteren Artikels 5 im Nato-Vertrag – der kollektiven Beistandspflicht. Im Wortlaut besagt Artikel 4: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Diese Gefahr sehen die Nato-Staaten aktuell nicht. Dabei wäre es nicht das erste Mal in diesem Konflikt gewesen, dass Nato-Staaten zu solchen Beratungen zusammenkommen. Direkt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine beantragten am 24. Februar 2022 einige osteuropäische Mitglieder solche Gespräche. Auch damals ergab sich keine direkte, kollektive militärische Reaktion des Bündnisses daraus. Der in Artikel 5 geregelte Bündnisfall, wonach ein Angriff auf einen als Angriff auf alle Alliierte gewertet würde, wobei nur nach einem einstimmigen Beschluss eine kollektive militärische Antwort des Bündnisses erfolgen würde, stand in den vergangenen Stunden eigentlich zu keiner Sekunde ernsthaft zur Debatte. Zu niederschwellig war der Zwischenfall, zu schnell war klar, dass es sich um keinen gezielten Angriff Russlands auf Nato-Territorium handeln dürfte.

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Frage: Bleibt also alles beim Alten, oder wird es dennoch eine Reaktion geben?

Antwort: Die Nato-Partner machten am Mittwoch unmissverständlich klar, dass die seit Anfang Oktober intensivierten, illegalen und teils willkürlichen Raketenangriffe eine extreme Gefahr für die Ukraine darstellen und darüber hinaus auch die Territorien der angrenzenden Nato-Staaten für ungewollte Zwischenfälle anfällig machen. Im selben Atemzug betonte man jedoch auch, dass man mehr denn je gewillt sei, die Ukraine bei ihrem völkerrechtlich zugesicherten Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen. Das bedeutet: mehr Waffen. Stoltenberg sprach von einer steigenden Bereitschaft unter den 30 Mitgliedsstaaten – sowie den zwei Partnern in spe: Schweden und Finnland –, Luftabwehr für die Ukraine bereitzustellen. Eine Ausweitung der Nato-Luftabwehr auf ukrainisches Gebiet schloss Stoltenberg jedoch aus.

Frage: Mit welchen Lieferungen ist demnächst zu rechnen?

Antwort: Noch ist vieles im Geheimen beziehungsweise in Abstimmung. Für Mittwochnachmittag etwa war noch ein von den USA geleitetes Treffen der Ukraine Contact Group innerhalb der Nato geplant. Bis Redaktionsschluss war allerdings über die Details noch nichts bekannt. Schweden wagte sich am Mittwoch aber bereits vor und sagte, dass Teil seines neuen, rund 276 Millionen Euro schweren militärischen Unterstützungspakets auch ein Luftabwehrsystem sein werde. Um welchen Typ es sich handelt, wollte Verteidigungsminister Pål Jonson aus Sicherheitsgründen nicht sagen. Prinzipiell folge man aber "der ukrainischen Prioritätenliste". (Fabian Sommavilla, 16.11.2022)