Verteidigungsministerin Klaudia Tanner denkt über eine Beteiligung an einer europäischen Luftabwehr nach – das sei aufgrund der geopolitischen Lage Österreichs geboten.

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Österreich ist ein neutrales Land. Das lernt jedes Kind in der Schule; das Konzept ist alt, doch offenbar immerwährend populär: In einer Umfrage des STANDARD im Mai 2022 gaben 71 Prozent der Befragten an, dass Österreich neutral bleiben sollte. Gleichzeitig stellen sich derzeit immer häufiger komplexe Fragen zur heimischen Landesverteidigung und militärischen Zusammenarbeit. Aktuell steht eine Beteiligung Österreichs an der sogenannten Sky-Shield-Initiative im Raum – dem geplanten Luftabwehrsystem der europäischen Nato-Länder.

Aber: Ginge das? Wo steht Österreich tatsächlich? An welchen militärischen Aktionen ist das Bundesheer schon jetzt beteiligt? Kurz: Was lässt sich mit der liebgewonnenen Neutralität vereinbaren – und was nicht?

Schwammige "Überparteilichkeit"

Neutralität bedeutet im Grunde nicht viel mehr als "Überparteilichkeit". In einem bewaffneten Konflikt leistet ein neutraler Staat "keine direkte oder indirekte militärische Unterstützung an Konfliktparteien", heißt es auf der Homepage des österreichischen Parlaments. Nachsatz: "Wirtschaftliche und diplomatische Verbindungen mit Konfliktparteien sind trotzdem möglich." Die österreichische Neutralität wurde 1955 nach Abzug der Besatzungstruppen in der Verfassung verankert – mit einer Zweidrittelmehrheit in Nationalrat und Bundesrat könnte sie wieder abgeschafft werden. Eine Volksabstimmung ist dafür nicht zwingend notwendig.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) will nun über Sky Shield diskutieren – wenn auch "im Rahmen der EU, nicht der Nato", wie es heißt. Am Dienstag traf sie ihre Amtskolleginnen und Amtskollegen beim EU-Rat in Brüssel. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte dort: "Österreich ist herzlich willkommen, sich zu beteiligen."

Auch Grüne für Beteiligung an Raketenabwehr

Auch der grüne Koalitionspartner ist für die Ambitionen des ÖVP-geführten Verteidigungsministeriums kein Hindernis. Er sei ebenfalls dafür, eine Beteiligung am europäischen Raketenabwehrsystem auszuloten, sagt der grüne Wehrsprecher David Stögmüller im STANDARD-Gespräch. Das sei auch die offizielle Position seiner Partei. "Ich bin für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der EU", sagt Stögmüller. Kooperationen wie bei Sky Shield müssten ausgelotet werden – Ähnliches gelte für die Beschaffung von militärischem Gerät. All das müsse aber "im Rahmen der Neutralität passieren" und jeweils geprüft werden.

Aber sind die Grünen im Rahmen der "offenen sicherheitspolitischen Debatte", die Stögmüller einfordert, auch bereit, über Österreichs Neutralität zu reden? Man habe eine aufrechte Verfassung, in der die Neutralität definiert ist, sagt Stögmüller. Über die heimische Sicherheitsdoktrin solle allerdings diskutiert und verhandelt werden.

Neutralitätskonforme Regelung bei politischer Einigung

Aber wo arbeitet Österreich schon jetzt mit der Nato oder einzelnen Nato-Staaten zusammen? Und wie lässt sich das vereinbaren? Wer sich in Sicherheitskreisen umhört, bekommt darauf immer wieder eine Antwort: Warum einzelne Operationen mit der Neutralität vereinbar seien oder nicht, könne einem in Wahrheit niemand sagen. Denn zu jeder Frage werde man von Verfassungsjuristen und Völkerrechtlern unterschiedliche Einschätzungen bekommen. Gebe es aber politische Einigkeit zur Teilnahme an Sky Shield, werde man auch eine verfassungskonforme Lösung finden, sagt ein Militär.

Fest steht: Österreich kooperiert bereits vielfach mit der Nato. Bekannt sind die internationalen Einsätze – etwa im Kosovo. Möglich ist das, weil es ein UN-Mandat dafür gibt – der Hebel für die Beteiligung neutraler Staaten an internationalen Missionen.

Österreichische "ABC-Übungen"

Auch abseits davon kooperiert Österreich bilateral "mit allen europäischen Staaten", wie im Verteidigungsministerium betont wird. Fast alle davon sind Nato-Mitglieder. Strategischer Hauptpartner ist Deutschland, mit dem man auch gemeinsame Einsätze führt. Heimische Soldaten üben aber etwa auch in Tschechien ABC-Einsätze – also Einsätze gegen atomare, biologische und chemische Waffen. Zu ähnlichen Übungen sind derzeit 28 Bundesheerangehörige in Dänemark, vier in Irland und je zwei in Belgien und Serbien.

Zudem ist Österreich Mitglied der "Partnerschaft für den Frieden", einer Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit zwischen Nato und 20 Nicht-Nato-Mitgliedern. Zur individuellen Kooperation legt die Nato regelmäßig eine Art Katalog vor, aus dem Österreich gemeinsame Projekte auswählen kann.

Aber wird es auch eine breite Debatte über Österreichs Neutralität geben, wie sie nicht nur Sicherheitsexperten schon lange anregen wollen? Jene Rakete, die in Polen aufschlug und dort zwei Menschen das Leben kostete, hat jedenfalls auch die österreichische Regierung aufgeschreckt: "Solche Ereignisse zeigen, wie brandgefährlich die Lage ist und dass sie sich jederzeit weiter verschärfen kann", sagt Kanzler Karl Nehammer (ÖVP). Er fügte allerdings an: "Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, besonnen zu reagieren." (Katharina Mittelstaedt, Martin Tschiderer, 17.11.2022)