Seit März 2020 wurde im Justizkomplex Schiphol verhandelt.

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Richter und Anwälte beim rekonstruierten Wrack der Boeing 777 auf einer niederländischen Militärbasis.

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Nach fast drei Jahren findet der Mammutprozess im Justizkomplex Schiphol nahe des großen niederländischen Flughafens ein Ende: Drei der vier Hauptangeklagten im Zusammenhang mit dem Abschuss der Passagiermaschine von Malaysia Airlines über der Ostukraine wurden des Mordes schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Außerdem müssen sie mehr als 16 Millionen Euro an Entschädigung den Angehörigen der Toten zahlen.

298 Menschen starben im Sommer 2014, als eine Luft-Boden-Rakete des sowjetischen Typs Buk das Flugzeug traf – die meisten stammten aus den Niederlanden. Sie alle waren von Amsterdam Richtung Kuala Lumpur unterwegs. Die grausamen Bilder der Trümmer und Leichenteile im Sonnenblumenfeld des Donbass gingen um die Welt und brachten den Krieg in der Ukraine der Öffentlichkeit näher.

Der vierte Angeklagte wurde freigesprochen, weil er keinen Einfluss auf den Raketenabschuss gehabt habe.

Niemand der vier war in Schiphol zur Urteilsverkündigung erschienen, und überhaupt nur einer hatte einen Rechtsvertreter vor Ort. Ihr aktueller Aufenthaltsort ist nicht bekannt, sie sollen sich aber laut Berichten weiterhin im Donbass befinden – in der selbsternannten "Volksrepublik Donezk", die mittlerweile widerrechtlich von Russland annektiert wurde.

Material von russischer Basis

Bei den Verurteilten handelt es sich allesamt um prorussische Separatisten, die in der "Volksrepublik" eine hohe Funktion innehaben. Die zwei Russen Igor Girkin und Sergej Dubinski sollen gemeinsam mit dem Ukrainer Leonid Chartschenko die Rakete in den Donbass gebracht haben. Recherchen der Investigativplattform "Bellingcat" hatten ans Licht gebracht, dass die Rakete und die Abschussvorrichtung aus einer Militärbasis in Russland stammten und letztgenannte – ohne Rakete – auch dorthin wieder zurückgebracht wurde. Oleg Pulatow war ebenfalls angeklagt, wurde aber freigesprochen.

Die Russen haben allesamt einen geheimdienstlichen Hintergrund, waren Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB oder der militärischen Nachrichtendienstes GRU. Girkin war Verteidigungsminister und Chef der Streitkräfte der selbsternannten "Volksrepublik Donezk". Dubinski war sein Stellvertreter, Pulatow wiederum war Dubinskis Stellvertreter. Chartschenko, der ukrainische Staatsbürger, war Kommandant der Separatisten und Befehlsempfänger von Dubinski.

Die Urteile stützen sich auf eine erdrückende Beweislast, die aus abgefangenen Telefonaten, Videos, Fotos und Material von der Absturzstelle bestehen. Ein internationales Ermittlerteam hatte den Tatort in der Ukraine untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich eben um eine Buk-Rakete gehandelt habe. Eigentlich hatten die Fachleute ein UN-Tribunal empfohlen, um die Schuldfrage zu klären. Doch Russland hatte von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch gemacht und ein ebensolches verhindert.

Russland sieht politisch motiviertes Urteil

Der vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis sagte: "Diese Strafe kann das Leid nicht wegnehmen, aber das Gericht hofft, dass Deutlichkeit über die Schuldfrage etwas Erleichterung für die Angehörigen bringen kann." Der niederländische Premier Mark Rutte schrieb auf Twitter: "Mit dem Urteil sind wir einen Schritt näher an der Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer und Angehörigen." Und auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einem wichtigen Zeichen. "Für solche Verbrechen darf es keine Straflosigkeit geben."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte das Urteil "wichtig". US-Außenminister Antony Blinken sah im Urteil einen "wichtigen Schritt, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen." Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sieht einen wichtigen ersten Schritt auf dem Weg zu Wahrheit und Verantwortlichkeit." Russland müsse die Verantwortung für die "Tragödie" übernehmen.

Danach sieht es aber derzeit nicht aus: Das russische Außenministerium wies den Schuldspruch als politisch motiviert zurück. "Sowohl der Verlauf als auch die Ergebnisse der Verhandlung zeugen davon, dass ihr der politische Auftrag zugrunde lag, die Version (...) von einer Beteiligung Russlands an der Tragödie zu stärken."

Zwei Klagen ausständig

Das Urteil dürfte nicht das letzte Wort im Verfahren zu Flug MH17 sein. Die Juristin Marieke De Hoon rechnet mit einer anschließenden Berufung.

Weiterhin anhängig sind zudem noch zwei Sammelklagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die eine wurde im Namen von 380 Angehörigen eingebracht und wirft Russland die Verletzung des Rechts auf Leben vor. Gefordert wird eine Entschädigung in Millionenhöhe. Doch Russland erkennt mit dem Austritt aus dem Europarat kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine die Gerichtsbarkeit des EGMR nicht mehr an. Vier Angehörige klagen die Ukraine, weil sie den Luftraum über dem Donbass nicht gesperrt hat. Zwar gab es eine Flugverbotszone unter 8.000 Metern, aber die Raketen können eine doppelt so hohe Flughöhe erreichen. (Bianca Blei, 17.11.2022)