Szenen einer Irritation: Weil der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch nach den gegenteiligen Einschätzungen der USA, der Nato und des von dem Vorfall betroffenen Polen darauf beharrt, dass nicht eine ukrainische, sondern eine russische Rakete in dem polnischen Grenzdorf Przewodów eingeschlagen sei, machte ein – nicht näher genannter – Diplomat eines Nato-Landes in der "Financial Times" nun seinem Ärger Luft: "Das wird lächerlich", sagte er. Die Ukraine zerstöre mit solchen Aussagen das Vertrauen, das man im Westen in sie setze. Denn, so der Diplomat: "Niemand beschuldigt die Ukraine, und sie lügen offen." Das sei "zerstörerischer als die Rakete".

Selenskyj hatte in seiner Videoansprache am Mittwochabend, mehr als 24 Stunden also nach dem tödlichen Einschlag einer Rakete in einen Landwirtschaftsbetrieb auf der polnischen Seite der Grenze, erklärt, sowohl der Chef der ukrainischen Luftwaffe als auch Armeechef Walerij Saluschnyj hätten ihn davon überzeugt, dass es keine Rakete aus ukrainischem Arsenal gewesen sein könne, sondern eine russische: "Es ergibt für mich keinen Sinn, ihnen nicht zu vertrauen, ich bin mit ihnen durch den Krieg gegangen."

Am Donnerstag unterstrich Außenminister Dmytro Kuleba diese Sichtweise. "Wir teilen die Ansicht, dass Russland die volle Verantwortung trägt für den Raketenterror und dessen Folgen auf dem Gebiet der Ukraine, Polens und Moldaus", schrieb Kuleba auf Twitter.

Die Verbündeten seines Landes, allen voran die USA und Polen, rief Selenskyj dazu auf, "alle Daten" über den Vorfall zur Verfügung zu stellen und die Ukraine in die Untersuchung am Tatort einzubinden.

USA: Russland letztlich verantwortlich

US-Präsident Joe Biden widersprach am Donnerstag nach seiner Rückkehr vom G20-Gipfel auf Bali Selenskyjs Behauptung. Das entspreche nicht den Hinweisen, sagte er in Washington. Sein Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte erst am Mittwoch den Standpunkt seines Landes wiederholt: Die Verantwortung für den Raketeneinschlag in Polen liege letztlich bei Russland, gleich ob die laufende Untersuchung bestätigen sollte, dass wie angenommen eine ukrainische Luftabwehrrakete die Explosion in Przewodów verursacht hat.

Präsident Selenskyj widerspricht seinen Verbündeten.
Foto: IMAGO/Ukraine Presidency/Ukrainian Pre

Am Donnerstag mischte sich dann mit Ungarn auch ein erstes Nato-Land in die Diskussion ein. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás, ein enger Vertrauter von Ministerpräsident Viktor Orbán, erklärte, "in einer solchen Situation äußern sich weltweit führende Politiker verantwortungsbewusst", Selenskyj hingegen habe sich verrannt, als er Russland für die fehlgeleitete Rakete beschuldigte. "Das ist ein schlechtes Vorbild."

Ukraine will an den Tatort

Seine Forderung, ukrainische Fachleute bei der Aufklärung des brisanten – und für zwei Polen tödlichen – Vorfalls mitmischen zu lassen, könnte Selenskyj aber bald erfüllt bekommen, jedenfalls wenn es nach Polen geht. "Wenn beide Seiten einverstanden sind, und soweit ich weiß, gibt es von amerikanischer Seite keine Einwände, kann dieser Zugang bald gewährt werden", sagte der polnische Präsidentenberater Jakub Kumoch am Donnerstag.

Die USA und Polen führen die Untersuchung der Einschlagstelle derzeit gemeinsam durch. "Die Fachleute berechnen die Richtung, aus der die Rakete kam, und die Menge des verbrauchten Treibstoffs und damit das Gebiet, in dem sie gestartet worden sein könnte", fügte er an. Derzeit spreche vieles für eine ukrainische Abwehrrakete, so Kumoch.

Ohnehin werden westliche Politiker nicht müde zu betonen, man müsse die Analyse abwarten, bevor man abschließend beurteilen könne, ob es nun eine russische oder eine ukrainische Rakete war, die das polnische Dorf getroffen hat. Ob sich an Selenskyjs Einschätzung etwas ändert, wenn sein Land in die Untersuchung eingebunden wird, bleibt freilich abzuwarten. (flon, 17.11.2022)