Menschenrechte sind nicht das Haupthindernis bei Abschiebungen, sagt Völkerrechtler Ralph Janik im Gastkommentar.

"Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet", sagte ÖVP-Klubchef August Wöginger im STANDARD-Interview.
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"Gehört überarbeitet", "exzessive Um- und Weiterinterpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte", "das Recht hat der Politik zu folgen". Die Europäische Menschenrechtskonvention (kurz EMRK) ist in den letzten Jahren zu einer Art pauschalem Sündenbock geworden. Die eigentlichen Fragen unserer Zeit – von einer sinnvollen Migrationspolitik bis hin zu den Hauptursachen gescheiterter Abschiebungen – bleiben indes unbehandelt.

Was ist die EMRK? Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein 1950 beschlossener multilateraler Vertrag, mit dem mittlerweile 46 europäische Staaten (Russland wurde zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen) einander die Achtung der darin enthaltenen Menschenrechte zusichern.

"Die EMRK ist kein Schönwettervertrag."

Heute ist die Welt eine andere geworden, das bezweifelt niemand. Nur: Die EMRK ist kein Schönwettervertrag, ganz im Gegenteil. Ihr historischer Hintergrund ist der Horror vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht beinhaltet sie gerade deswegen keine Bestimmung zu Asyl. Die damaligen Verhandler haben ihre Augen vor diesem Thema verschlossen, obwohl in den Jahren zuvor Millionen Menschen geflohen sind. Unbehandelt blieb es damals freilich nicht, wir finden eine Bestimmung zum Recht auf Asyl in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, drei Jahre später wurden die Rechte von Flüchtlingen in der Genfer Flüchtlingskonvention verschriftlicht.

Dennoch war die Behandlung von Flüchtlingen über Umwege stets im Vertragstext der EMRK angelegt. Schließlich besagt sie, dass niemand gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder willkürlich getötet werden darf. Ohne Ausnahmen, auch nicht im Krieg, auch nicht Terroristen und sonstige Intensivstraftäter. Dahinter steht der simple Gedanke, dass es Dinge gibt, die kein Mensch verdient hat – zumal obendrein die Gefahr überbordender oder missbräuchlicher Anwendung besteht, also auch Unschuldige gefoltert oder getötet werden könnten.

Quo vadis, Menschenrechte?

Daher sollen Staaten weder selbst jemanden foltern oder grundlos töten noch jemanden in ein Land abschieben oder dorthin ausliefern, wo eine derartige Behandlung ernsthaft droht. Abschiebungen in Bürgerkriegsländer sind ebenso unzulässig wie in Diktaturen, in denen mutmaßliche "Staatsfeinde" – und wer abgeschoben wurde, kann in der Heimat schnell als verdächtig gelten – willkürlich verfolgt werden.

Ein Thema, das erstmals 1961 (!) aufgekommen ist. Schon damals hat die mittlerweile abgeschaffte Europäische Menschenrechtskommission betont, dass eine Abschiebung nicht zu einer Verletzung des Verbots von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gemäß Artikel 3 EMRK führen darf. Drei Jahre später wurde festgehalten, dass das auch für gesuchte Straftäter gilt. Auslöser war übrigens ein jugoslawischer Staatsbürger, der von Österreich in seine Heimat ausgeliefert werden sollte.

Richtungsweisende Entscheidung

Die bis heute richtungsweisende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) stammt indes aus dem Jahr 1989: Konkret ging es um die Frage, ob eine Auslieferung in die USA rechtens ist, wenn dort die Todesstrafe droht. Der Betroffene – der deutsche Staatsbürger Jens Söring – hatte erfolgreich argumentiert, dass die Wartezeit in der Todeszelle erniedrigend sei. Eine Auslieferung durch das Vereinigte Königreich war daher nur unter der Bedingung möglich, dass die Todesstrafe nicht verhängt wird (Söring wurde übrigens 2019 freigelassen).

Kurz darauf dehnte der EGMR diese alte und simple Feststellung auf Asylwerber aus: Die Ratio ist dieselbe, kein Staat soll Quasibeitragstäter bei einer Verletzung von Artikel 3 EMRK sein und dementsprechend niemanden in ein Land abschieben, in dem ein hohes Risiko einer solchen besteht.

"Menschenrechte sind nicht das Haupthindernis bei Abschiebungen."

Womit wir bei des Pudels Kern wären: Die EMRK schränkt den staatlichen Spielraum bei Abschiebungen in der Tat ein. Nur: Damit ist sie nicht allein. Deckungsgleiche Verpflichtungen ergeben sich auch aus dem UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Antifolterkonvention oder der EU-Grundrechtecharta. Wer die EMRK abändern oder aus ihr austreten will (wie von der FPÖ Oberösterreich ins Spiel gebracht), müsste also eine Reihe weiterer Verträge grundlegend umformulieren oder verlassen, inklusive eines EU-Austritts.

Wer all das fordert, sollte außerdem offen sagen, dass er kein Problem damit hat, wenn Österreich drohende Misshandlungen zwar nicht selbst ausführt, aber aktiv unterstützt, indem es die Betroffenen einer solchen Situation aussetzt. Das wäre immerhin konsequent. Abgesehen davon sind die Menschenrechte ohnehin nicht das Haupthindernis bei Abschiebungen, scheitern sie doch aus den unterschiedlichsten Gründen: von organisatorischen Schwierigkeiten bei Abschiebeflügen oder behördlicher Überforderung über die fehlende Kooperation der Herkunftsländer bis hin zu Fällen, in denen man gar nicht weiß, woher die Abzuschiebenden eigentlich kommen. Verlässliche Daten gibt es dazu aber keine. So genau will es ohnehin kaum jemand wissen. Zur Not ist eben die EMRK schuld. (Ralph Janik, 18.11.2022)