Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj baut auf die Unterstützung der Nato, doch ganz friktionsfrei ist das Verhältnis nicht.

Foto: Reuters / Ukrainian Presidential Press Service

Die nächste Eskalationsstufe ist vorerst ausgeblieben, die erste Erleichterung darüber war groß. Doch wer nun glaubt, dass eigentlich nichts passiert ist, als am Dienstagnachmittag eine Rakete in den kleinen polnischen Ort Przewodów einschlug, irrt.

Zum einen sind dabei zwei Personen getötet worden – zwei weitere Zufallsopfer im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der seit fast neun Monaten andauert und auf beiden Seiten bereits tausende Menschenleben gefordert hat. Zum anderen hat der Vorfall gezeigt, wie rasch die Debatten über die westliche Partnerschaft mit der Ukraine hochkochen können, sobald die Nervosität der Beteiligten steigt.

Dabei schien die Welt zunächst gleich zweimal hintereinander aufzuatmen: Schon bald nachdem die Nachricht vom Raketeneinschlag in einem EU- und Nato-Staat die Runde gemacht hatte, signalisierten westliche Spitzenpolitiker, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen und schon gar nicht voreilig reagieren werde.

Das zweite Aufatmen folgte, als die Nato erklärte, es gebe keine Hinweise auf einen russischen Angriff. Der Vorfall sei "wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht" worden, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer ersten Analyse. Auch der polnische Präsident Andrzej Duda schloss sich diesem Befund an: "Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war."

Moskau verantwortlich

Im Westen war man sich wohl darüber im Klaren, dass man die – vorläufigen – Untersuchungsergebnisse vorsichtig kommunizieren muss. Die Ukraine, die seit Monaten von Russland bombardiert wird und einem kalten, dunklen Winter entgegenzittert, sollte nicht das Gefühl bekommen, für den Vorfall verantwortlich gemacht zu werden. Denn selbst wenn weitere Analysen bestätigen sollten, dass eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete über polnischem Gebiet abgestürzt ist, so sind es am Ende russische Angriffe, gegen die sich die Ukraine wehrt.

Genau das wurde unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: "Russland trägt letztlich die Verantwortung, denn es setzt seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine fort", sagte etwa Generalsekretär Stoltenberg. Ähnlich äußerte sich am Mittwoch auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin.

Der Haken an der Sache: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beziehungsweise seine Militärexperten waren da bezüglich der Herkunft der Rakete von Przewodów bereits zu einer anderen Einschätzung gekommen.

Selenskyj hatte den Vorfall als "Botschaft Russlands an den G20-Gipfel" bezeichnet, der zeitgleich auf Bali stattfand. Auf den vorläufigen Befund des Westens reagierte er mit den Worten: "Kann man Fakten oder irgendwelche Beweise von den Partnern erhalten?" Er denke jedenfalls, "dass es eine russische Rakete war – gemäß dem Vertrauen, das ich zu den Berichten der Militärs habe".

Klarheit schaffen

Dass er die Einbeziehung ukrainischer Spezialisten bei der Aufklärung forderte, war da nur folgerichtig. Auch Wassyl Chymynez, der ukrainische Botschafter in Wien, sagte am Donnerstag zum STANDARD: "Die Ukraine ist stark daran interessiert, Klarheit darüber zu schaffen, um welche Rakete es sich handelt."

Laut Kiew gab Polen mittlerweile grünes Licht, was bereits für ruhigere Töne sorgte. "Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche Raketen oder deren Teile auf polnisches Hoheitsgebiet gefallen sind", so Selenskyj.

Bei den Untersuchungen an einem Strang zu ziehen wäre auch für all jene wichtig, die nicht wollen, dass die europäische Solidarität mit der Ukraine an anderer Stelle weiter geschwächt wird. So sagte etwa bereits Gergely Gulyás, Kanzleiminister und enger Vertrauter des ungarischen Premiers Viktor Orbán, der für sein Naheverhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin bekannt ist, Selenskyj habe "ein schlechtes Vorbild" abgegeben.

Dass es weitaus deftiger geht, bewies die ungarische Zeitung "Magyar Nemzet": Statt zu verhandeln, sitze Selenskyj "im khakifarbenen Leibchen in seinem Bunker vor einer Kamera" und "beschimpft Putin".

Das große Ganze

In der Ukraine selbst, die täglich unter russischen Raketeneinschlägen leidet, plädiert man hingegen dafür, auch in der Przewodów-Debatte das große Ganze zu sehen. Gerade der Dienstag war wieder ein Tag mit besonders heftigem Beschuss. "Wir sind sehr unglücklich darüber, dass in Polen zwei Menschen getötet wurden", sagt Botschafter Chymynez. "Aber es ist bedauerlich, dass auch in Österreich viele erst jetzt realisieren, dass in der Nähe ihres Landes Krieg ist." (ANALYSE: Gerald Schubert, 17.11.2022)