Die größte Schildkröte, die man heute auf der Erde finden kann, ist die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea). Ihr von sieben charakteristischen Längskielen gezierter Panzer ist von einer lederartigen Haut überzogen und kann bis zu 2,5 Meter lang werden. Damit ist sie gar nicht so weit entfernt von den Riesen der Urzeit: Protostega gigas zum Beispiel bevölkerte vor etwa 83 Millionen Jahren die Meere und erreichte eine Länge von mindestens drei Metern.

Leviathanochelys aenigmatica war größer als alle bisher in Europa entdeckten Meeresschildkröten.
Illustr.: ICRA_Arts.

Größte Meeresschildkröte Europas

Nun haben Forschende in Spanien eine bisher unbekannte ausgestorbene Meeresschildkrötenart entdeckt, die Protostegas Ausmaße deutlich übertrumpft: Das von einem Team um Àngel H. Luján und Albert Sellés von der Autonomen Universität Barcelona im Fachjournal "Scientific Reports" präsentierte Fossil weist auf ein Tier hin, das zu Lebzeiten 3,74 Meter lang gewesen sein muss. Damit ist die neue Leviathanochelys aenigmatica genannte Spezies die größte bisher in Europa gefundene Meeresschildkröte.

Gefunden wurden die fossilen Überreste zwischen 2016 und 2021 in einem Ausgrabungsgebiet nahe der Ortschaft Cal Torrades im Nordosten Spaniens. Das Exemplar ist zwar bei weitem nicht vollständig, doch die geborgenen Fragmente, darunter das fast komplette Becken und Teile des oberen Panzers, geben genügend Aufschluss, um sich eine Vorstellung von dieser Riesin zu machen. Datiert wurden die Funde auf die späte Kreidezeit vor 83,6 bis 72,1 Millionen Jahren.

Bisher unbekannte Schildkrötengruppe

Das Individuum besitzt auch einen charakteristischen Knochenvorsprung, der von der Front des Beckens nach vorn ragt. Dieses Merkmal, das bei bisher bekannten Arten nicht vorkommt, weist darauf hin, dass Leviathanochelys einer bisher unbekannten Gruppe urzeitlicher Meeresschildkröten angehörte.

Möglicherweise hängt dieser knöcherne Ausläufer etwas mit dem Atmungssystem der Schildkröte zusammen, lautet die Vermutung der Forschenden. Anhand der Überreste kamen die Paläontologen zu dem Schluss, dass sich Gigantismus bei Meeresschildkröten offenbar unabhängig voneinander in unterschiedlichen Abstammungslinien sowohl in Nordamerika als auch in Europa entwickelt hat.

"Brigitta", das weltgrößte und vollständigste Skelett von Archelon ischyros.
Foto: Dr. Bernd Gross

Wiener Rekordschildkröte stellt sie alle in den Schatten

Auch wenn Protostega und Leviathanochelys zweifellos beeindruckende Erscheinungen abgegeben haben, gegen die unangefochtene Königin der Riesenschildkröten erschienen sie wahrscheinlich trotzdem beinahe mickrig: Archelon ischyros, ebenfalls ein Kind der Kreidezeit, maß vom Kopf bis zur Schwanzspitze 4,6 Meter. Das größte und vollständigste Exemplar dieser gepanzerten Gigantin ist im Besitz des Naturhistorischen Museum in Wien und trägt den Spitznamen "Brigitta". (tberg, 18.11.2022)