Roger Milla 1990: "Wir werden die WM nicht durch den Nebenausgang, sondern durchs Portal verlassen."

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Fußball-Ikone Diego Maradona hat es nach Doha geschafft.

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Der Fußball ist 2022 in Katar zu Gast. Es dürfte einmal mehr eine euopäische und südamerikanische Angelegenheit werden.

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Die Welt ist eine Kugel. Ab Sonntag wird diese Kugel einen Umfang von 69 bis höchstens 70 Zentimeter haben und nicht einmal ein halbes Kilo schwer sein. Wird dann diese Kugel getreten, gestoppt, gequält, gestreichelt, gegaberlt, geköpft, so fängt sie an, ihre Geschichten zu erzählen. In denen geht es ausnahmslos immer ums Eingemachte. Ums Eingemachte eines jeden Menschen: um die Träume, die Hoffnungen, die Ängste, die Pläne, die Siege, die Niederlagen; um das Scheitern, das Gelingen, das Auftauchen, das Tun, das Untergehen; ums Grandiose, aber ums Inferiore auch. Kaum eine andere Theaterform fährt den dafür Empfänglichen so unmittelbar ins Gemüt, wie es der Fußball tut.

Alle vier Jahre geschieht das im globalen Maßstab. Die Fußballweltmeisterschaft ist das meistgesehene Sportereignis weltweit. Das Finale vor vier Jahren verfolgten 1,12 Milliarden Menschen live. Kumuliert sahen dieses Turnier in Russland 3,6 Milliarden Menschen. Wohin immer ein Fußballinteressierter reisen mag, er wird überall Anknüpfungspunkte finden für ein Gespräch. Sogar jenseits geläufiger Sprachkompetenzen.

Bevor Joseph Haydn 1790 nach London reiste, hatte ihn sein jugendlicher Freund Wolfgang Amadeus Mozart gefragt, wie er sich dort denn verständigen wolle, da er doch nicht Englisch spreche. "Papa Haydn" antwortete, wie heutzutage jeder Fußballlegionär und jeder Fußballfan antworten würde: "Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt."

Giganten unter sich

Die nun startende WM mag unter dem absurden Austragungsort in der Größe von nicht einmal Oberösterreich leiden. Aber es wird auch im protzenden Katar der Funke überspringen via Fernsehen in all seinen Übertragungswegen. Spätestens dann, wenn sich die Reihen der 32 Endrundenteilnehmer gelichtet haben und die europäischen und südamerikanischen Giganten einander gegenüberstehen.

Das ist das historische Erbe des Spiels. England gilt zwar unbestritten als das Mutterland des Fußballs. Den säte es überall auf der Welt. Seine heutige äußere, aber mehr noch innere Gestalt wurde ihm aber auf dem europäischen und – etwas früher sogar – dem südamerikanischen Kontinent gegeben. Auch Österreich durfte da kurz mitwirken. Gemeinsam mit der Tschechoslowakei, Ungarn und Italien entstand in der zertrümmerten Mitte Europas der schöne Calcio danubiano. Und am Rio de la Plata wuchs in der Rivalität mit Brasilien der zweite Flügel des Balls.

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Premier am la Plata

Die erste WM, 1930, fand also nicht zufällig in Uruguay statt. Das Finale war eine reine La-Plata-Angelegenheit. Der Gastgeber schlug Argentinien 4:2. Vier Jahre später wurde die Endrunde im faschistischen Italien ausgetragen. Auch hier gewann, mit tatkräftiger Hilfe der Schiedsrichter, der Gastgeber gegen die Tschechoslowakei.

Der internationale Fußball war lange Zeit aufgebaut auf dieser südamerikanisch-europäischen Rivalität. Zum Unwillen der Europäer hielt sich die im Jahr 1904 gegründete Fifa, die Fédération Internationale de Football Association, tatsächlich für beide Kontinente zuständig. Die Amerikaner hatten gar seit 1916 einen eigenen Verband, die Confederación Sudamericana de Fútbol, die Conmebol. Europa hielt das in seiner traditionellen Hybris lange Zeit nicht für notwendig. Denn man hielt – irrtümlich – die Fifa eh für europäisch genug. Erst seit 1954 gibt es die europäische Fußballunion Uefa.

Die anderen Kontinentalverbände – Nord- und Mittelamerika inklusive Karibik (Concacaf), Asien und Australien (AFC), Ozeanien (OFC) und Afrika (CAF) – waren bloße Nebendarsteller im globalen Theater. 1930 unterlagen die USA im Halbfinale Argentinien 1:6. 2002 Südkorea bei der Heim-WM Deutschland 0:1. Sonst waren auch die Halbfinale bislang Revier der alten Haudegen des internationalen Fußballs.

Erst 1990, in Italien, kam etwas Bewegung – oder besser: der Traum von Bewegung – in die starre Angelegenheit. Mit Kamerun zog erstmals ein schwarzafrikanisches Team ins Viertelfinale ein, wo es England immerhin in die Verlängerung gezwungen hat. Ein damals weithin unbekannter Stürmer namens Roger Milla hat die Zuschauer verzaubert. Und wie schon am la Plata und an der Donau wurde auch hier das Neue im Spiel mit einem Tanz beschrieben. Nach dem Walzer der Mitteleuropäer und dem Tango der La-Plata-Kicker, zu dem sich in den 1950er-Jahren der Samba von der Copacabana gesellte, prägte nun auch der Makossa das ballesterische Bild. Jedes Tor feierte Kameruns Milla durch seinen lasziven Tanz mit der Cornerfahne. Ein jubilierender Hüftschwung, der mittlerweile zum gewohnten Bild geworden ist in den Stadien der Welt.

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Ende der Bipolarität

Das Ende der Bipolarität im Fußball fiel – wohl nicht ganz zufällig – zusammen mit dem Ende der Bipolarität in der Welt. 1989 barst die Berliner Mauer, 1990 die ballesterische Mauer zu Afrika, auf dem seither die nicht unberechtigten Hoffnungen auf die Weiterentwicklung des Spiels ruhen. So wie man in der Welt von der friedvollen Weltgesellschaft träumte, träumte man in der Fußballwelt vom vereinten Weltfußball. Auf diesem Traum basierte die Globalisierungsstrategie der Fifa. Die sich allerdings – da wie dort – bloß als eine großangelegte Markterweiterung erwies: das Weiterspinnen des alten Westens in immer größerem Maßstab.

Schon 1994 gastierte die Fifa mit ihrer Entourage in den USA. Zwar war mit Mexiko ein nordamerikanisches Land schon zweimal, 1970 und 1986, WM-Gastgeber. Aber Mexiko ist eben auch lateinamerikanisch und deshalb seit je durchseucht vom Virus jenes Fußballs, der nach den Association-Regeln gespielt wird und in den USA darum Soccer genannt, aber nicht wirklich gespielt wurde. Die WM 1994 sollte diesem Soccer den Weg bahnen in den riesigen, noch unbeackerten, aber höchstentwickelten nordamerikanischen Markt.

Und so geht es seither weiter, regelmäßig drängt der Weltverband in einen noch frischen Markt. 2002 Südkorea/Japan, 2010 Südafrika, 2018 Russland, zwar Uefa-Mitglied von Beginn an, aber als Gastgeber weithin unbekannt. Nun fehlen der Fifa eigentlich nur noch zwei Riesenmärkte: China und Indien. Jetzt aber ist, quasi im Vorbeigehen, einmal Katar an der Reihe, wo der Fußball allerdings wenig mehr als ein sündteures Investment ist.

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Das Wunder Pelé

Früher war jede Weltmeisterschaft auch eine spannende Entdeckungstour. Ein Pelé war etwa 1958 in Schweden ein bestauntes Wunder, das erst 17-jährig dazu beitrug, dass Brasilien Weltmeister wurde.

Die Globalisierung des Fußballspiels hat freilich nicht zu einer Stärkung aller Kontinente geführt. Sondern zu einer Monopolisierung. Von Neymar über Lionel Messi bis zu Sadio Mané spielen alle, die vom Ball besonders geliebt werden, bei europäischen Klubs. Nicht selten um arabisches und bis März gerne auch russisches Geld.

Man kennt also längst nicht mehr nur sich, sondern auch einander aus dem Effeff. Die Freude auf Brasilien ist einer tieferen Kenntnis von dessen Ballesterei gewichen. Spätestens seit dem Trainer Carlos Alberto Parreira – abschätzig nannten sie den dreimaligen Coach der Seleção manchmal auch "Europäer" – spielen selbst die stolzen Sambatänzer europäisch. Überraschungen gibt es im globalisierten Fußball diesbezüglich keine mehr.

Lassen wir uns also überraschen. (Wolfgang Weisgram, 18.11.2022)