Foto: Regine Hendrich

In die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums (KHM) kommt man von Sabine Haag am schnellsten mit dem Lastenaufzug. Ob Gemälde, Satyr oder die marmorne Pallas Athene von Giuseppe Pisani: Kunst beherrscht auch das Büro der KHM-Chefin.

STANDARD: Sagt Ihnen die Ziffernkombination 3727 etwas?

Haag: Das dürfte ein Elfenbein-Exponat sein: die Furie?

STANDARD: Ja, eines der Objekte der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums, die Sie so mögen. Vom unbekannten Künstler, den man "Furienmeister" nennt.

Haag: Eines meiner absoluten Lieblingsobjekte, immer schon.

Sabine Haag ortet generell "zu kleine Budgets, zu wenig Geld für Forschung, zu wenig Verständnis" für Museen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie sind Expertin für Elfenbein, haben Ihre Dissertation über die Elfenbein-Sammlung hier geschrieben. Warum gerade Elfenbein?

Haag: Elfenbein ist ein unglaublich sinnliches, ansprechendes Material. Wenn man es angreift, spürt man die Wärme des Stoffes, das Glatte, das Kantige. Ich bin mit dem Material Elfenbein emotional verbunden, nicht zuletzt, weil ich so lang in der Kunstkammer gearbeitet habe. Diese Furie zählt für mich zu den außergewöhnlichsten Objekten, sie ist eine kleine Skulptur und stand im 17. Jahrhundert ganz am Anfang jener Bewegung, die begann, sich wieder mit Elfenbein zu beschäftigen. Sie ist ästhetisch sehr anspruchsvoll und steht für das neue Menschenbild jener Zeit. Die Furie mit diesem unglaublichen Gesichtsausdruck und der Draperie, die sie auseinanderzureißen scheint, bewegt mich und berührt mich. In so einem kleinen Format, mehr als 400 Jahre alt, steckt auch das drin, was die Gesellschaft derzeit wieder so stark spürt: Es ist keine ruhige Zeit, keine gute Zeit, die nur von Schönheit bestimmt ist – ganz im Gegenteil.

STANDARD: Seit 1989 darf man Elfenbein nicht mehr handeln, man darf es nicht einmal importieren.

Haag: Es ist als Werkstoff verboten, unter anderem um die Wilderei an Elefanten zu verhindern. Die Debatten laufen trotzdem heiß, nicht zuletzt durch die Eröffnungsausstellung des Berliner Humboldt-Forums, "Schrecklich schön – Elefant, Mensch, Elfenbein". Da ging es auch um die Frage, ob Museen heutzutage überhaupt noch Werke der Elfenbeinkunst zeigen dürfen.

Keine 38 Zentimeter hoch ist diese Furie aus Elfenbein vom unbekannten Künstler, den man "Furienmeister" nennt. Entstanden ist sie um 1610/1620 – und sie ist das Lieblingsobjekt der KHM-Chefin.
Foto: KHM-Museumsverband

STANDARD: Dürfen sie?

Haag: Ja, natürlich dürfen sie. Das KHM hat den bedeutendsten Bestand an figurativer Elfenbeinkunst weltweit, das sind kulturelle Zeugnisse, das ist unser kulturelles Erbe.

STANDARD: Die heutigen Verbote sollen nicht zurückwirken?

Haag: Nein, die können nicht zurückwirken. Diese Werke sind ein Teil des künstlerischen Willens und Ausdrucks, und es ist wichtig, sie zu zeigen. Aber natürlich spricht man, wenn man heute zu Elfenbeinkunst publiziert oder Ausstellungen macht, das Thema Ausbeutung, Wilderei und Handelsverbot an. Würde man das Ausstellen historischer Werke verbieten und sagen "Ab ins Depot!", könnte man die heutige Wilderei damit ja auch nicht eindämmen.

STANDARD: Sie arbeiten zeit Ihres Berufslebens, seit 32 Jahren, im KHM und halten es für den "schönsten Arbeitsplatz" der Welt. Was gefällt Ihnen hier am wenigsten?

Haag: Nichts KHM-Spezifisches, sondern etwas generell Gültiges für Museen: zu kleine Budgets, zu wenig Geld für Forschung, zu wenig Verständnis.

STANDARD: Säßen Sie im Oberen Belvedere, wäre aber Ihre Aussicht schöner.

Haag: Da hätten wir auch den berühmten Canaletto-Blick auf die Innenstadt, ...

STANDARD: ... um den es beim Heumarkt-Projekt von Michael Tojner geht, dessentwegen Wiens Unesco-Welterbe-Status gefährdet ist. Sie sind auch Präsidentin der Österreichischen Unesco-Kommission, die beratende Funktion hat. Wie sehen Sie die Sache?

Haag: An die Kriterien der Welterbekonvention muss man sich halten, der Ball liegt beim Projektwerber. Die Entscheidung wird bei der nächsten Sitzung der Welterbe-Kommission fallen, wann genau, ist aber noch offen. Denn den Vorsitz führt derzeit Russland.

STANDARD: Am Dienstag haben Klimaaktivisten ein Klimt-Gemälde im Wiener Leopold-Museum mit schwarzer Farbe angeschüttet. Was sagen Sie dazu?

Haag: Das ist der vollkommen falsche Protest für ein grundsätzlich richtiges Anliegen. Das kann nicht auf dem Rücken der Kunst und Museen ausgetragen werden, die Aktivisten sollten andere Maßnahmen ergreifen und sich andere Zielgruppen suchen, bei denen ihr Anliegen sinnvoller platziert werden könnte.

STANDARD: Wo wäre das?

Haag: Bei Politik, Wirtschaft ...

STANDARD: Sie sollen sich am Bundeskanzleramt festkleben?

Haag: Zu beurteilen, ob Festkleben die richtige Maßnahme ist, ist nicht meine Angelegenheit.

STANDARD: Sehen Sie in diesen Klimaprotesten im Museum Vandalismus?

Haag: Ja, das ist Vandalismus. Denn sie nehmen die Beschädigung eines Kunstwerks in Kauf, und das widerspricht dem Geist und der Mission von Museen, offene Orte zu sein. Nun müssen wir unsere Sicherheit weiter aufrüsten und werden so noch einen Schritt weniger inklusiv sein. Das kann doch nicht der Sinn der Sache sein.

STANDARD: Die Aktion wurde auch damit begründet, dass die OMV das Leopold-Museum sponsere. Die OMV ist "Generalpartner" des KHM und somit wichtiger Sponsor. Müssen Sie sich einen anderen Generalpartner suchen?

Haag: Nein, solche Aktionen von Klimaaktivisten haben keinen Einfluss auf unsere Sponsorenauswahl. Wir überlegen uns genau, welcher Partner zu uns passt, und vice versa. Die Sponsoren unterstützen die Arbeit, die uns wichtig ist.

Am 15. November überschütteten Klimaaktivisten der Gruppe Letzte Generation im Leopold-Museum Gustav Klimts "Tod und Leben" mit schwarzer Farbe.
Foto: APA/LETZTE GENERATION ÖSTERREICH

STANDARD: Warum passt die OMV zum Kunsthistorischen?

Haag: Die OMV ermöglicht uns Jugend- und Bildungsarbeit. Wir sehen da keinerlei Sittenwidrigkeit.

STANDARD: Ihr Jahresbudget liegt bei 50 Millionen Euro, davon kommen 24 Millionen als Basisabgeltung vom Staat. Aus Sponsoring lukrieren Sie zwei Millionen Euro im Jahr. Wie viel davon kommt von der OMV?

Haag: Über Beträge reden wir nicht.

STANDARD: Auch die Salzburger Festspiele hatten Erklärungsbedarf, wegen ihres russischen Sponsors Gazprom***. Werden sich Kulturbetriebe grundsätzlich neu aufstellen müssen?

Haag: Nein, aber man wird noch genauer schauen, wen man als Sponsor nimmt. Wir haben längst einen Code of Ethics ...

STANDARD: Pistolenerzeuger Glock käme also nicht infrage?

Haag: Nein, aber ich verwehre mich gegen einen Generalverdacht gegen die Sponsorentätigkeit großer Konzerne. Man muss sich Partnerschaften genau überlegen und dann mit beidseitiger Freude das Beste für die Institution draus machen.

STANDARD: Die Präsidentin der Salzburger Festspiele ist Ihre Schwägerin.

Haag: Ja, aber das tut hier nichts zur Sache. Aber ich bin sehr stolz auf sie, sie macht das sehr gut, finde ich.

STANDARD: Wie viel soll Ihr neues Membership-Programm einspielen?

Haag: Das wendet sich an Leute, die sich mit 150 oder 450 Euro im Jahr engagieren wollen, daneben gibt es für einzelne Ausstellungsobjekte ja auch rund 550 Patenschaften.

STANDARD: Auch originelle: Die Bestattung Wien ist Patin eines Totenkopf-Automaten in der Kunstkammer. Was kostet so eine Patenschaft?

Haag: Da gibt es keine fixen Beträge. Oft werden Patenschaften, von denen wir rund 550 haben, für Restaurierungsarbeiten übernommen.

In der Pandemie brachen auch dem KHM die Einnahmen weg – auch 2023 muss noch gespart werden. Ein "radikaler Personalabbau" steht laut Haag nicht an.
Foto: APA/Roland Schlager

STANDARD: 2020 mussten Sie pandemiebedingt sparen, wie schaut Ihr Budget 2023 aus? Der KHM-Verband mit seinen acht Häusern beschäftigt rund 700 Mitarbeiter, müssen Sie Personal abbauen?

Haag: Wir haben noch kein genehmigtes Budget, und es sind Einsparungen vorgesehen. Die Personalkosten sind da natürlich der größte Hebel. Aber ein radikaler Personalabbau steht nicht auf der Agenda.

STANDARD: Sie bezeichnen sich als "Barockmensch", mögen die entsprechende Musik, Mode und Kunst. Was ist das Barocke an Ihnen? Die mit dieser Kunstrichtung des 17., 18. Jahrhunderts verbundene Opulenz scheint es nicht zu sein.

Haag: Ich setze mich seit meinem Studium mit der Barockzeit auseinander, und zu der gehören nicht nur Opulenz und pralle Lebensfreude, ...

STANDARD: ... sondern auch Vergänglichkeitsbewusstsein, ausgelöst durch den Dreißigjährigen Krieg.

Haag: Genau, und all diese Aspekte interessieren mich sehr.

STANDARD: Sie wuchsen in Vorarlberg mit vier Geschwistern auf, Ihr Vater war Notar, und Sie sprechen in dem Konnex von Geborgenheit, Disziplin, Leistung. Das bestimmt Ihr Weltbild?

Haag: Ich hatte das Glück, in einer funktionierenden, füreinander sorgenden Familie aufzuwachsen, das prägt einen fürs ganze Leben. Das merke ich immer wieder.

STANDARD: Interessanterweise ist Jonathan Franzen einer Ihrer Lieblingsautoren, seine Romane spielen in dysfunktionalen Familien.

Haag: Ich liebe seine Bücher wirklich. Es gibt wenige Autoren wie ihn, bei denen ich den ersten Satz lese und weiß: Das Buch sitzt.

STANDARD: Ich lese am Ende eines Buches immer den ersten Satz noch einmal, im Wissen, wie die Geschichte enden wird. Im Leben geht das ja nicht.

Haag: Das tue ich auch. Im Leben kann man halt nicht noch mal anfangen.

STANDARD: Sie wussten mit 13, dass Sie Kunstgeschichte studieren wollen, dazwischen wollten Sie Balletttänzerin oder Nonne werden. Wie das?

Haag: Ich bin halt kein eindimensionaler Mensch. Künstlerin wäre ich wirklich gern geworden.

STANDARD: Schriftstellerin, weil Sie so gern geschrieben haben?

Haag: Genau.

STANDARD: "Alte Meister", in denen der Protagonist jeden zweiten Tag im KHM sitzt, ist aber schon geschrieben.

"Alte Meister" von Thomas Bernhard (hier 1988 nach der Premiere von "Heldenplatz") spielt im Kunsthistorischen Museum.
Foto: Matthias Cremer

Haag: Ja, und Thomas Bernhard ist unerreichbar. Ihn habe ich als Autor erst spät für mich entdeckt. Dafür habe ich als junges Mädchen alles von Hesse gelesen, und irgendwann konnte ich den nicht mehr haben. Ich bin dann auf Horváth umgestiegen, quasi als Kontrastprogramm.

STANDARD: Es gibt ja kaum einen böseren Satz in der österreichischen Literatur als "Du wirst meiner Liebe nicht entgehen" in Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" …

Haag: Ja, das sagt der Fleischermeister – und dabei hab ich immer Helmut Qualtinger vor Augen.

STANDARD: Ihre Beobachter sagen, Sie wollen nicht anecken. Haben Sie nie aufbegehrt?

Haag: Schon, aber ich haue dabei nicht laut auf den Tisch. Hier im Haus habe ich nur zweimal wen angeschrien, der dachte, er sei hier der Mittelpunkt der Welt.

STANDARD: Wer ist Mittelpunkt?

"Hier ist die Kunst der Mittelpunkt der Welt", sagt die Chefin des Kunsthistorischen Museums.
Foto: Regine Hendrich

Haag: Hier ist die Kunst der Mittelpunkt der Welt. Und ob ich nicht anecken will? Ich streite nicht gern, ich argumentiere lieber ruhig.

STANDARD: Das KHM hat viel Konkurrenz, müssten Sie nicht laut sein, mehr auffallen?

Haag: Nein, man muss nicht laut, sondern gut sein, einen Plan haben.

STANDARD: Sie sind seit 13 Jahren Chefin hier. Was ist die größte Veränderung, die Sie bewirkt haben?

Haag: Die Neuaufstellung der Kunstkammer, das Hereinbringen moderner und zeitgenössischer Kunst mit Ausstellungen wie Lucian Freud. Der Teamgedanke und flachere Hierarchien. Wir haben 2010 das erste Ganymed-Projekt umgesetzt, holen mit "Kunstschatzi" junge Leute ins Haus. Das ist das Moderne am KHM.

STANDARD: So eine richtige Aufreger-Ausstellung hatten Sie aber nie?

Haag: Eine Skandalausstellung? Na ja, unser Freud hat schon aufgeregt, da hingen im letzten Raum riesige Bilder mit einem Berg von nackten Männern und Frauen, nicht attraktiv schön, aber sehr explizit: Da haben sich schon einige empört. Und auch unsere Kooperation mit der Akademie der bildenden Künste, bei der wir mit Studierenden zum Thema Queerness und Diversity gearbeitet haben, hat mir etliche aufgeregte Mails und Briefe eingetragen.

STANDARD: Weil Sie von "flacheren Hierarchien" sprachen: Voriges Jahr haben Sie einen neuen Posten installiert und mit einem Mann besetzt, den "Leiter Sammlungen und Forschung", das hat Ihnen Kritik eingetragen. Zudem heißt es, dass Sie Frauen zu wenig fördern. Wie sehen Sie diese Kritik?

Haag: Ich habe das als sehr tendenziös und ungerecht empfunden. Seit die von Ihnen genannte Stelle besetzt ist, ist Ruhe eingekehrt, und mir bleibt mehr Zeit für andere Agenden – wie etwa fürs Sponsoring.

"Ich möchte immer die Besten haben, und Frausein allein reicht nicht. Das reicht ja auch bei mir nicht", sagt Sabine Haag, der mitunter mangelnde Frauenförderung attestiert wird.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Haben Sie denn mehr Sponsoren an Land gezogen?

Haag: Natürlich. Und natürlich versuche ich auch Frauen zu fördern. Aber dazu gehört auch, dass sie sich bewerben. Es gab tatsächlich Ausschreibungen, bei denen sich keine Frau beworben hat. Dann muss ich einen Mann nehmen. Außerdem möchte ich immer die Besten haben, und Frausein allein reicht nicht. Das reicht ja auch bei mir nicht.

STANDARD: Sammeln Sie selbst auch Kunst?

Haag: Nein. Früher habe ich Kunstpostkarten gesammelt – und Kamele.

STANDARD: Kamele?

Haag: Als ich jung war, habe ich geraucht: Camel. Und da habe ich Kamelfiguren aller Art gesammelt.

STANDARD: Was wäre die Welt ohne Kunst?

Haag: Leer.

STANDARD: Was wären Sie ohne Kunst?

Haag: Ich wäre orientierungslos, ohne innere Sicherheit. Kunst ist mein Anker.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Haag: Um die Liebe. (Renate Graber, 19.11.2022)