Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) will die Europäische Menschenrechtskonvention "realitätsnah auslegen".

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Sie sei in dieser Frage "immer ganz klar" gewesen, sagte Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Freitag im Ö1-"Morgenjournal": Die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) stehe im Verfassungsrang. Und "niemand in der ÖVP" habe "jemals am Menschenrechtskatalog rütteln" wollen.

Allerdings: In einem STANDARD-Interview vergangene Woche, hatte ÖVP-Klubchef August Wöginger genau das getan. "Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet", hatte er da gesagt. Denn mittlerweile gebe es "eine andere Situation, als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden". Die Folge war eine breite öffentliche Debatte über die EMRK, in der sich ÖVP-Landeshauptleute ebenfalls für eine "Überarbeitung" aussprachen.

EMRK "realitätsnah auslegen"

Die stehe nicht zur Debatte, sagte Edtstadler in dem Radio-Interview. Sie fügte allerdings hinzu: "Wobei man schon sagen muss, dass die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention natürlich betrachtet werden muss." Es brauche hier Urteile, die "realitätsnah" seien. Das betreffe nicht nur den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), sondern auch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, der die EU-Grundrechtecharta auslegen müsse.

Der EGMR, für den Edtstadler selbst zwei Jahre gearbeitet hat, verstehe die EMRK als "living document", was heiße: Sie sei "realitätsnah auszulegen". Hier gelte es, "einen Diskurs zu führen und auch zu zeigen, dass es das eine oder andere Urteil gibt, das auf das System Einfluss hat und zu Problemen führt". Das sei "mehr als angemessen, und das muss man auch tun", so die Ministerin, die aktuell in Brüssel weilt, wo am Freitag die Außen- und Europaministerinnen und -minister der EU zusammenkommen. Debattiert wird dort über Energiepreise, mögliche Strafen für Ungarn und Asyl.

EU-Asylsystem "tot"

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte beim Treffen mit seinem Amtskollegen aus Ungarn, Viktor Orbán, und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić am Mittwoch gesagt, das Asylsystem der EU sei gescheitert. Allerdings: Viel war von einem europäischen Asylsystem ohnehin nie zu merken. So zählte Österreich stets zu den Staaten, die eine EU-weite Verteilung von Geflüchteten strikt ablehnten. Es gebe dazu "eine geltende Rechtslage, die einfach nicht mehr angewandt" werde, sagte Edtstadler.

Nehammer habe daher recht, wenn er von einem gescheiterten Asylsystem spreche. Man wisse, dass die Dublin-III-Verordnung tot sei. Denn keiner tue mehr das, was getan werde müsste. Laut der Verordnung müssten Asylverfahren nämlich in jenem EU-Land stattfinden, in dem Flüchtlinge als Erstes eintreffen. Für außereuropäische Geflüchtete sei das im Fall Österreichs nicht möglich, "außer jemand springt mit dem Fallschirm über Österreich ab". Trotzdem habe es heuer bereits rund 90.000 Asylanträge in Österreich gegeben.

Lösungen, die "nicht an der Realität vorbeigehen"

Laut der Ministerin braucht es deshalb eine europäische Lösung, die auch tatsächlich angewandt werden könne, einen effizienten Außengrenzschutz und rasche Asylverfahren direkt an der Außengrenze. Dazu müssten die entsprechenden EU-Länder auch von den anderen Mitgliedsstaaten wie Österreich unterstützt werden.

Das solle bei einem Sonderministerrat der EU-Innenminister nächste Woche erneut diskutiert werden. Es brauche Lösungen, die praktikabel seien und nicht an der Realität vorbeigingen. Zudem müsse es bei negativen Asylbescheiden auch schnelle Rückführungen geben, sagte Edtstadler. Dazu müsse die Europäische Kommission mit den Herkunftsländern verhandeln.

"Weniger belastete Staaten" sollen Österreich unterstützen

Auf die Frage, ob es statt Asylverfahren in den EU-Ländern mit Außengrenzen nicht einen Schlüssel für die Verteilung von Geflüchteten auf ganz Europa brauche, sagte Edtstadler, Österreich habe spätestens seit 2015 gezeigt, dass es riesige Herausforderungen stemme und eine große Zahl an Asylwerbern aufgenommen habe.

Es sei nun an der Zeit, dass sich auch "weniger belastete Mitgliedsstaaten" Gedanken machten, wie man stark belastete Stataten entlasten könne. Zu Letzteren zählt laut der Ministerin etwa neben Zypern und Slowenien auch Österreich. Brüssel könne sich hier nicht zurücklehnen und "die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und Landeshauptleute im Stich lassen". Es sei "Zeit, das auf den Tisch zu bringen".

Rotes Kreuz mahnt menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten ein

Rotkreuz-Präsident Gerald Schöpfer hat am Freitag Angebote eingemahnt, um Asylwerber menschenwürdig unterzubringen und zu integrieren. Die aktuelle politische Debatte zur Unterbringung von Asylwerbern werde auf dem Rücken hilfsbedürftiger Menschen ausgetragen, kritisierte er anlässlich der Präsidentenkonferenz des Österreichischen Roten Kreuzes. Das Österreichische Rote Kreuz fordert die Einhaltung von Mindeststandards bei Asylverfahren, Unterbringung, Versorgung und mehr Mittel für Integration.

"Natürlich stellen Flucht und Migration uns immer wieder vor Herausforderungen", räumte Schöpfer in einer Aussendung ein. "Sie bieten allerdings auch zahlreiche Chancen für unser Land, und gerade in Krisenzeiten ist es entscheidend, unseren Wertekompass im Blick zu haben." Österreich habe sich mit der Genfer Flüchtlingskonvention völkerrechtlich zu Basisversorgung und fairen Asylverfahren für Menschen verpflichtet, die in Österreich einen Asylantrag stellen. Auch wenn nicht alle davon Asyl erhalten, sei Österreich im Rahmen der EU verpflichtet, sie nach Mindeststandards unterzubringen und zu versorgen. (Martin Tschiderer, APA, 18.11.2022)