"Wenn wir wirklich Freunde wären, dann würdest du so'n Scheiß überhaupt nicht machen! Du machst uns alles kaputt": Mit diesen Worten verlässt Lee eine Pressekonferenz, die 25 Jahre später auch denjenigen noch im Gedächtnis ist, die Tic Tac Toe vielleicht vorher gar nicht gekannten haben. Vor allem die Antwort von Bandkollegin Ricky: "Jetzt kommen wieder die Tränen auf Knopfdruck" wird noch sehr oft zitiert. Wie ironisch! Wirft man der Band, einer der erfolgreichsten deutschen Rap-Crews aller Zeiten, doch dauernd vor, nicht authentisch zu sein. Selbst als Ricarda Wältken, Liane Wiegelmann und Marlene Tackenberg, so heißen Ricky, Lee und Jazzy bürgerlich, komplett die Nerven verlieren, sprechen einige noch von purer Inszenierung.

Liane "Lee" Wiegelmann, Marlene "Jazzy" Tackenberg und Ricarda "Ricky" Wältken (v. li.) bildeten zusammen die erfolgreichste deutsche Frauenband, Tic Tac Toe.
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Doch wie kam es überhaupt zum Eklat? Im Jahr 1995 wurde die Band gegründet, die ersten beiden Alben verkauften sich jeweils mehr als eine Million Mal und wurden mit Gold und Platin ausgezeichnet. Im Herbst 1997 werden einige Konzerte wegen Krankheit abgesagt, Trennungsgerüchte machen die Runde. Mit der Pressekonferenz hatten die drei eigentlich Klarheit schaffen wollen. Ricky, mit 19 Jahren die jüngste in der Band, wurde vorgeworfen, psychologische Hilfe zu benötigen und das geheim zu halten.

Auf der Pressekonferenz fragt Lee sie geradeaus, wozu sie einen Psychotherapeuten brauche. "Das war lediglich ein Stress-Aufbau-Training ... In Amerika macht das fast jeder", rechtfertigt sich Ricky. Die Enttabuisierung psychischer Störungen war 1997 noch nicht sehr weit fortgeschritten. Nach dem offen ausgetragenen Streit war erst einmal Schluss mit Tic Tac Toe, zwei Comeback-Versuche scheiterten.

Doch auch vor dem 21. November 1997, an dem die Band mit dem misslungenen Auftritt bei der Pressekonferenz Fernsehgeschichte schrieb, begegnete die mediale Öffentlichkeit den drei Frauen mit Häme und Voyeurismus.

Progressive, selbstermächtigende Themen

Das Oevre, das Aufklärungsarbeit und Selbstermächtigung für zahlreiche Mädchen und Buben leistete, geriet in den Hintergrund. Die Band thematisierte in dem Songtext von "Bitte küss' mich nicht" zum Beispiel das Tabuthema Kindesmissbrauch. "Große Jungs weinen nicht" ist eine Ballade über toxische Männlichkeit, obwohl das Konzept damals noch gar nicht im Mainstream bekannt war. Auch bei anderen Themen waren Tic Tac Toe progressiv. Sie besangen die Scham von Mädchen für ihre Monatsblutung ("Ich fühl' mich Always Ultra") oder für ihre sexuelle Lust ("Funky").

Junge Tic-Tac-Toe-Fans 1997 in Berlin. In vielen Texten ging es um Aufklärung und Selbstermächtigung.
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Für die verhinderten ungewollten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten durch "Leck mich am A, B, Zeh" ("Denn zieht sich jetzt dein Pillermann / nicht sofort einen Gummi an / Sag ich dir klipp und klar / dann bin ich nicht mehr da") wurde den dreien nie gedankt. Auch das Auftreten war ungewohnt rotzig und direkt, von Girl-Bands war man ein ständiges Zahnpastalächeln gewohnt.

Das Thema Rassismus wurde zwar musikalisch verarbeitet ("Wer hat Angst vor schwarzen Frauen"), über das eigene Schwarzsein sprachen sie auffallend wenig. Jazzy hat afroamerikanische Wurzeln, wird aber meist als weiß gelesen. Vergangenes Jahr sagte sie in einem Interview: "Wir fanden sogar gut, dass unsere Hautfarbe nicht viel thematisiert wurde. Das waren andere Zeiten. Selbst wenn wir gesagt hätten: Schau mal, das sind Dinge, die passieren, weil wir schwarz sind – das hätte uns niemand geglaubt."

"Wir fanden sogar gut, dass unsere Hautfarbe nicht viel thematisiert wurde. Das waren andere Zeiten", sagt Marlene "Jazzy" Tackenberg heute.
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Den Tiefgang von Tic Tac Toe übersahen Eltern, Schule und Medien weitgehend. Zu beschäftigt waren sie mit der Empörung über die Wortwahl von "Verpiss dich" oder "Ich find‘ dich scheiße". Letzteres wurde sogar anfangs von Radiosendern boykottiert.

Lees Vergangenheit im Zentrum

Stattdessen wühlte der Boulevard hemmungslos in der Vergangenheit der Bandmitglieder herum und wurde bei Lee fündig. "Sie wurde Star, ihr Freund erhängte sich" titelte die "Bild"-Zeitung und konstruierte so einen Zusammenhang zwischen Lees Karriere und dem Suizid ihres Mannes Frank Wiegelmann. Offenbar wollte er eine häuslichere Partnerin. Zwei Jahre lang stritt das Paar, trennte und versöhnte sich abwechselnd. Nach einer dieser Trennungen verschwand Wiegelmann und wurde erst nach sieben Monaten tot aufgefunden. Als Lee, für die Weitermachen eine gute Ablenkung schien, beim Song "Warum" die Tränen kamen, war das für den Boulevard nur Show.

Die Medien forderten Ehrlichkeit und Reue den Fans gegenüber. Lee, die sich außerdem in Teenagerjahren für zwei Wochen mit Sexarbeit finanziert und mit dem Geld auch Drogen gekauft haben soll, wurde medial zur Schlampe abgestempelt und zu einem allumfassenden Geständnis gedrängt. Man bekommt das Gefühl, Tic Tac Toe wurden von den Medien getrieben, fühlten sich schuldig und gehorchten. Im "Stern" packte Lee dann zuerst aus, wofür das Magazin viel Geld zahlte.

Boulevardmedien rückten das Privatleben von Liane "Lee" Wiegelmann ins Zentrum.
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Lees Vergangenheit überschattete die erste Tournee. Die Morddrohungen häuften sich und Konzerte konnten nur mit Polizeischutz stattfinden. Zeitgleich trudelten 40.000 Leser:innenbriefe bei der Bravo ein, die Tic Tac Toe dazu ermutigten, trotzdem weiterzumachen.

Doppelstandard

Warum eigentlich trotzdem? Zu gutem Rap gehört doch Street Credibility?! Hier nur zwei Beispiele, was sich Gangster-Rapper, die es regelmäßig in die Bravo schafften, rausnehmen durften: Bushidos erster Coverauftritt war mit "Ich habe geklaut und mit 500 Frauen geschlafen", ein Geständnis, das wohl eher beweisen soll, dass Deutschland nun tatsächlich auch einen echten Gangsterrapper hat. Bushido wurde unter anderem wegen Versicherungsbetrug, Beleidigung und Urheberrechtsverletzung verurteilt, ein Prozess wegen Körperverletzung endete mit einer Diversion. Außerdem war er in den kriminellen Abou-Chaker-Clan verwickelt.

Eminems Exfrau Kim Scott hat sich tatsächlich versucht das Leben zu nehmen, weil der US-Rapper ihre toxische Beziehung bei Bühnenauftritten für sein hartes Image nutzte und explizite Mord- und Gewaltandrohungen auf der Bühne an sie richtete. Unter anderem nahm er mehrfach eine aufblasbare Sexpuppe auf die Bühne, nannte sie Kim und deutete eine Vergewaltigung an. Als die beiden nach dem Suizidversuch wieder ein Paar wurden, titelte die Bravo, dass "die Liebe stärker" gewesen sei.

Dass auch Ricky, Lee und Jazzy ein echtes Leben mit allen Höhen und Tiefen gelebt haben, nahm man ihnen allerdings übel. Vergangenes Jahr sagte die unter Jazzy bekannte Marlene Tackenberg: "Zuerst waren wir niemandem authentisch genug. Es wurde immer so getan, als spielten wir die unangepassten Frauen nur. Und dann waren wir schlimmer, als sie es sich je vorgestellt haben."

Ricarda "Ricky" Wältken war mit 19 Jahren die jüngste in der Band.
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Die Legende, dass die damalige Managerin Claudia Wohlfromm die Frauen gar nicht bei einem Hip-Hop-Jam entdeckt, sondern gecastet hatte, schadete dem Image der Band. Sie "konnten nicht ohne fremde Hilfe texten, und zu einer Band hatten sie auch nicht selber gefunden, sondern wurden von einer pfiffigen Labelmanagerin miteinander verbandelt", schrieb etwa die "Neue Zürcher Zeitung".

Eine gecastete Girlband, die nicht weichgespült ist? Das geht in den 90ern offenbar einfach nicht. Insofern gefiel der Öffentlichkeit dann doch das Bild von Frauen, die sich von der Straße hochgekämpft haben. Von Frauen oder Rapperinnen wurde übrigens nie geredet, Tic Tac Toe, das waren Mädchen oder Girlies, die Pop machen, auch im Feuilleton, selbst die Deutungshoheit über das Genre nahm man der Band. Einen nachvollziehbaren Vertrauensverlust erlitten sie zudem dadurch, dass sie dem Wunsch der Plattenfirma nachkamen, ihr Alter um ein bis vier Jahre nach unten zu schrauben.

Großer Erfolg in kurzer Zeit

Eine Tournee unter Trauer, Morddrohungen und dadurch ständigem Personenschutz sowie die Verfolgungsjagd durch die Klatschmedien haben Lee (23), Jazzy (22) und vor allem Ricky (19) zu Getriebenen gemacht. Wurde ein Termin wegen Krankheit abgesagt, kam ihnen noch mehr Hass entgegen, ob sie wirklich mit Grippe im Bett lagen oder nicht, spielte keine Rolle mehr. "Dauerschnupfen oder Nase voll", spekulierte die "Bild"-Zeitung dann.

Die Pressekonferenz war ein hilfloser Versuch, es allen recht zu machen, obwohl ja tatsächlich vieles im Argen lag. Tic Tac Toes Megaerfolg konzentrierte sich auf eineinhalb Jahre, in denen auch sonst zu viel passierte. Für das "Focus"-Magazin lag das schlicht am Geschlecht, zumindest legt das die in dem Zusammenhang gestellte rhetorische Frage nahe, ob Frauen einen höheren emotionalen Quotienten haben.

Mit Gangstarap-Maßstab wäre die Pressekonferenz vielleicht als authentischer Diss ein Nebenschauplatz geblieben. Was hängen blieb, wurde zum größten Zickenterror der sonst so heilen Welt der Popmusik gemacht. Das Klischee der hysterischen Tussis blieb an ihnen kleben. Und wer überwiegend weibliche Fans in der Pubertät hat, wird sowieso nicht ernst genommen. "Hier streiten sich drei Zwölfjährige darum, wessen Barbiepuppe denn nun am schönsten sei", beschreibt das Musikmagazin Laut.de die Geschichte der Band.

Tic Tac Toe bei einem Konzert im Jahr 2006 – zwei Comebackversuche der Band scheiterten.
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Obwohl viele nur das desaströse Ende von Tic Tac Toe kennen, gibt es auch diejenigen, die durch die drei schwarzen Frauen aus dem Ruhrpott geprägt wurden. Weil sie die Klappe aufrissen und Themen besangen, die sich viele Eltern nicht einmal anzusprechen trauten.

Auf die Titelseite der "Bravo" schaffte es übrigens nur mehr eine von Tic Tac Toe, und zwar mit "süß und sexy, Ricky nackt!". Und dann nie wieder, weder zur Versöhnung 2005, die ihnen die Öffentlichkeit nicht abkaufen wollte, noch zum Comeback in anderer Besetzung. (Maria von Usslar, 21.11.2022)