In Kathmandu bereiten Wahlhelfer die Wahllokale vor.

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Die Gerüchte vom Frühling haben sich am Ende nicht bewahrheitet. Im Laufe des Jahres würden, so hieß es damals in Kathmandu, die ganz Großen ins kleine Nepal reisen. Antony Blinken, Außenminister der USA, würde kommen oder vielleicht sogar die Vizepräsidentin höchstpersönlich, Kamala Harris. Immerhin gibt es 75 Jahre Nepal-US-Beziehungen zu feiern. Schließlich tummelte sich eine 25-köpfige hochrangige Delegation der US-Regierung in Kathmandu. Was sollten sie sonst machen, als eine noch größere Visite vorzubereiten?

Weder Harris noch Blinken ist bis Mitte November in den Himalaja-Staat gereist. Dass die Weltmacht USA ein neues Interesse an dem bitterarmen Land in Südasien zeigt, ist aber trotzdem nicht zu übersehen. Es gibt wiederholte hochrangige Besuche und Zusagen zu diversen Hilfsprojekten. Das Größte davon ist das 500-Millionen-US-Dollar schwere MCC-Paket. Das US-Hilfsprogramm Millennium Challenge Corporation unterstützt weltweit Infrastrukturprojekte.

Der Geldsegen aus Übersee hat allerdings für kräftige Verstimmungen in der Region gesorgt: Der große Nachbar China, der mit seiner "Belt and Road Initiative" (BRI) eigene Projekte umzusetzen sucht, warnte vor US-amerikanischer "Zwangsdiplomatie". Kurz nachdem der MCC unter breitem Protest Anfang des Jahres ratifiziert worden war, reiste Chinas Außenminister Wang Yi nach Kathmandu. Im August fixierten China und Nepal Pläne für das Trans-Himalaja-Netzwerk. Darunter soll zum Beispiel eine Bahnverbindung zwischen Lhasa (Tibet) und Kathmandu gebaut werden.

Zwickmühle zwischen China und Indien

Auffallend still verhielt sich Indien, der andere Nachbar, in Sachen US-Hilfe. Den Einfluss aus dem Norden, also aus China, schmeckt Delhi aber nicht. Indien sieht Nepal traditionell als eigenen Hinterhof, Chinas Bemühungen um Einfluss im Himalaja begegnet es mit Sorge. Beide Länder liefern sich schon seit Jahren ein Kräftemessen im Himalaja-Land. Nepal findet sich in einer Zwickmühle wieder: Wendet sich Kathmandu dem einen Nachbarn zu, verstimmt das den anderen und vice versa.

Der amtierende Premier Deuba will sein Amt noch weiter ausführen und kandidiert für die Kongresspartei.
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Wenn am Sonntag im Land also Parlamentswahlen stattfinden, geht es immer auch darum: Wird die Allianz um die eher proindische Kongresspartei die Nase vorne haben? Deren Chef Sher Bahadur Deuba regiert aktuell das Land. Oder kann die Allianz um die kommunistische UML-Partei unter K. P. Sharma Oli reüssieren? Oli hat während seinen früheren Amtszeiten als Premierminister wiederholt China-freundliche Projekte umgesetzt.

China gegen Indien – allein schon geografisch entkommt Nepal der Dichotomie nicht. Und doch greift sie immer auch zu kurz. Seit der Abschaffung der Monarchie 2008 gab es zehn Regierungen, keine hielt eine ganze Legislaturperiode durch. Schnell ändern sich in Nepal die Allianzen und Gräben, die zwischen Freund und Feind trennen – oder welche Parteien chinesische oder indischen Projektinitiativen antreiben.

Möglichkeit zum Befreiungsschlag

Mit dem neuen Interesse der USA gesellt sich nun außerdem ein neuer Player in die Runde, der das Machtspiel ordentlich aufwirbelt. In Kathmandu sehen manche Optimisten darin die lang ersehnte Möglichkeit zum Befreiungsschlag: Kann das bitterarme Land mithilfe neuer Kräfteverhältnisse von beiden profitieren und endlich sein Potenzial entfalten, das seit Jahrzehnten heraufbeschworen wird?

Auch Oli will wieder Premier werden. Er hatte das Amt bereits in der Vergangenheit inne.
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Dazu gehört vor allem die Wasserkraft: Nepal gilt als eines der Länder, wo weltweit das größte Potenzial für Wasserkraft liegt. Um es auszuschöpfen, braucht es aber Infrastruktur. In dem bergigen Land gibt es nur wenige mehrspurige Straßen. Zumeist winden sich Laster einspurig über Serpentinen. Genau da sollen die Dollar aus Amerika unter dem Namen MCC ansetzen: Sie dienen dem Ausbau von Elektrizitätsleitungen und Straßen.

Die USA gehörten schon in den 1950ern zu den ersten Geldgebern. In den 1960ern finanzierte die CIA einen geheimen Guerilla-Krieg von Tibetern, die von nepalesischem Territorium aus Angriffe auf chinesische Konvois auf dem tibetischen Plateau ausübten. Doch spätestens seit den 1980ern hat sich das US-Interesse wieder verflüchtigt. Während eines blutigen Bürgerkriegs in den 1990ern sprangen Japan oder multinationale Organisationen wie die Weltbank oder der IMF als Geldgeber ein.

USA orientieren sich nach Asien

Doch seit rund zehn Jahren wollen sich die USA wieder Asien zuwenden. Von Barack Obama angekündigt, vor allem unter Donald Trump lautstark vorangetrieben und unter Joe Biden nun vehement verfolgt, bekommen Länder wie Nepal die Auswirkungen dieser Entwicklung zu spüren.

Bereits 2018 haben sich Washington und Kathmandu auf das MCC-Abkommen geeinigt, es fehlte aber noch die Ratifizierung. Etwa zur gleichen Zeit einigte sich Nepal auch mit China über die Teilnahme an deren "Belt and Road Initiative". Es war zu jener Zeit, dass der Widerstand gegen den MCC wuchs. Bis zur Ratifizierung Anfang des Jahres kam es immer wieder zu heftigen, teils gewalttätigen Protesten auf den Straßen.

Santosh Sharma von der Forschungsplattform Nepal Institute for Policy Research sieht die Gründe für diese plötzliche Blockade gegen US-amerikanische Hilfe vorrangig in parteiinternen Streitigkeiten. Erst als Peking diese wahrnahm, nutzte es die Gunst der Stunde, meint der Forscher.

So findet sich Nepal nun nicht mehr bloß im China-Indien-Machtkampf wieder, sondern wird auch zum Spielball im globalen Machtkampf zwischen den USA und China. Der MCC sei Teil der indopazifischen Strategie, hieß es anfangs noch von US-Seite. Diese soll im großen Stil Chinas Einfluss im asiatischen Raum eindämmen. Schnell ruderten US-Vertreter aber zurück. Zu groß war die Empörung in Peking – und auch die Angst in Teilen der nepalesischen Bevölkerung.

Diffuse Kriegsangst durch Fake News

Angestachelt durch den Ukraine-Krieg herrscht in den Straßen Kathmandus eine diffuse Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Fake News darüber, dass US-Soldaten in Nepal stationiert werden würden, haben sich ausgebreitet. Auch wenn diese Ängste überzogen sind, drückt Sharma doch das aus, was manche befürchten: "Wo auch immer sich Amerikaner eingemischt haben – egal ob militärisch oder politisch –, wurde die Lage instabiler." Generell sei die Skepsis in Nepal gegenüber den USA oder Indien größer als gegenüber China, was wiederum aus der gemeinsamen Geschichte herrührt: "Mit Indien haben wir so viel zu tun. Es gibt also auch viel mehr, das man nicht mögen kann."

Seit China sich aber intensiver in Nepal engagiert, ändern sich auch hier die Vorzeichen. Sri Lanka gilt heute vielen als Negativbeispiel, weil es in eine Schuldenfalle getappt ist. Bezeichnenderweise wurde bis dato noch kein einziges der BRI-Projekte umgesetzt. Das mag auch daran liegen, dass seit Sommer 2021 der Kongress-Politiker Deuba Premierminister ist und das Land sich unter ihm wieder eher Richtung Süden orientiert.

Ob das so bleibt, ist ungewiss. In Nepal werden keine Umfragen im Vorfeld von Wahlen durchgeführt. Beobachter sehen aber Deuba im Vorteil gegenüber seinen Herausforderern. Ergebnisse sind in rund zwei Wochen zu erwarten. Für die USA wäre ein Sieg der Deuba-Allianz von Vorteil, decken sich die eigenen Interessen mit denen Indiens doch weitgehend, analysiert Sharma. Indien beobachte wiederum das US-amerikanische Engagement durchaus mit Skepsis. Denn an einem Strang zu ziehen ist das eine. "Doch Indien möchte auch nicht zu viel US-Einfluss in Nepal sehen." Dass dieses Jahr weder Antony Blinken noch Kamala Harris nach Kathmandu gereist sind, dürfte Delhi also mit Wohlwollen wahrgenommen haben. (Anna Sawerthal 20.11.2022)