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Rund 44 Milliarden Dollar hat Elon Musk für Twitter gezahlt. Im Rahmen der Übernahme entließ er zuerst das Management und setzte kurz darauf die Hälfte der Belegschaft vor die Tür – mit dem Effekt, dass als wichtig empfundene Abteilungen nun unterbesetzt sind. Weitere Mitarbeiter verlassen das Unternehmen freiwillig, weil sie die Vorstellungen des neuen CEOs nicht teilen. Das Schicksal des defizitären Unternehmens scheint nun ungewisser denn je zuvor.

PRO

Aus der Außenperspektive wirkt es durchaus chaotisch, was in San Francisco derzeit passiert. Das sieht auch der CEO selbst so: "Twitter wird in den kommenden Monaten viele dumme Dinge tun", schrieb Elon Musk am 9. November auf der Plattform: "Wir werden das behalten, was funktioniert, und das ändern, was nicht funktioniert." Vor wenigen Tagen kündigte er zudem an, dass er nicht ewig CEO von Twitter bleiben wolle, sondern nur so lange, bis der Laden wieder läuft.

Musks unorthodoxe und nicht selten rüpelhafte Art mag irritieren. Gleichzeitig besteht aber kein Zweifel daran, dass hier etwas praktiziert wird, das in der Beraterszene und Fachliteratur als "Turnaround-Management" bezeichnet wird: eine Form des Change-Managements, bei der mit teils drastisch wirkenden Schritten das Ruder eines maroden Unternehmens herumgerissen wird.

Denn Twitters wirtschaftliche Situation war auch vor Musks Übernahme nicht rosig: Im Geschäftsjahr 2021 machte das Unternehmen 221 Millionen US-Dollar Verlust, laut Musk verliert das Unternehmen derzeit vier Millionen Dollar pro Tag. Höchste Zeit also, das Ruder herumzureißen.

Was der Fachliteratur zufolge in einem Turnaround passiert, mag aufmerksamen Beobachtern der aktuellen Situation bekannt vorkommen. Das alte Management loswerden, weil es eine Veränderung nicht mittragen würde, und durch einen interimistischen CEO ersetzen? Check. Nicht benötigte Geschäftsbereiche eliminieren und für flachere Hierarchien sorgen? Jein: Zwar merken Kritiker an, dass im Rahmen der Massenentlassungen auch kritische Abteilungen ausgedünnt wurden – es dürften aber auch Liebhaberprojekte weggefallen sein, die nicht zum Unternehmenserfolg beitragen. Neue Einkommensquellen erschließen? Willkommen bei "Twitter Blue" – dem Service, bei dem man eine Verifizierung für Geld erwerben kann.

Laut Eigenangabe übernachtet Musk derzeit im Twitter-Büro, mangelndes Engagement kann ihm also nicht unterstellt werden. Vielmehr arbeitet der Mann, der mit Space X auch Raketen ins All schießt, an einem neuen Twitter, das vieles anders macht als die Plattform, die derzeit meist von einer Bubble aus Politikern und Journalisten genutzt wird. Und die im Zuge dessen auch profitabel werden könnte. (Stefan Mey, 18.11.2022)

KONTRA

Man kann es als Ultimatum für die Mitarbeiter bezeichnen – oder auch als Dolchstoß für Twitter. Der fragwürdigen Aktion von Elon Musk ging wochenlanges Chaos voraus, das zwangsläufig in einem Fiasko wie diesem enden musste: Auf Massenentlassungen folgten vereinzelte Rückholaktionen, kostenpflichtige Abos wurden eingeführt, nur um dann wieder auf unbestimmte Zeit suspendiert zu werden. Und in der Zwischenzeit öffnete man Betrügern und Spaßvögeln Tür und Tor, die die Glaubwürdigkeit der Plattform endgültig auf eine Talfahrt geschickt haben, von der sie sich nicht mehr erholen dürfte.

Wie der falsche Super Mario, der als Sinnbild für Fake-Accounts auf Twitter in Erinnerung bleiben wird, haben nun auch die Mitarbeiter Elon Musk den Mittelfinger gezeigt. Entscheidet sich tatsächlich ein Großteil gegen "lange Arbeitszeiten mit hoher Intensität", werden von den ursprünglich mehr als 7.500 Mitarbeitern nicht einmal 1.000 übrigbleiben. Und wie lange der Rest dem Druck einer toxischen Unternehmenskultur standhält, für die auch andere Unternehmen mit Musk als CEO bekannt sind, lässt sich noch nicht abschätzen.

Als ob der bevorstehende Exodus weiterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht schon schlimm genug wäre, wandern auch zahlreiche Personen aus Schlüsselpositionen ab, die sich nicht so leicht kompensieren lassen. Das betrifft Posten, die für die kritische Infrastruktur des Unternehmens verantwortlich sind, aber offenbar auch ganze Teams, die für zukünftige Projekte von Twitter verantwortlich gewesen wären.

Dass es trotzdem ein Twitter 2.0 geben wird, mag außer Frage stehen. Die Frage ist nur, wie das neue Spielzeug aussehen wird, wenn es der kleine Elon in die Ecke geworfen hat, weil es ihm nicht mehr gefällt. Mit dem Einreißen der tragenden Säulen des Unternehmens werden die verbleibenden Mitarbeiter verschwinden, so wie der Nachrichtendienst mit der Zeit in die Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Denn wenn die Geschichte des Internets eines gezeigt hat, dann ist es die Austauschbarkeit von Plattformen und Diensten. Als Bilanz lässt sich also nur ein Scherbenhaufen festhalten, der bestenfalls zusammengekehrt, aber nicht mehr zur ursprünglichen Stärke des Nachrichtendienstes zusammengesetzt werden kann. (Benjamin Brandtner, 18.11.2022)