Für ein paar Stunden sah es in der Nacht auf Mittwoch so aus, als sei in Europa ein weiterer militärischer Ernstfall eingetreten. In Polen. Er hätte indirekt und direkt nicht nur die Nato, sondern auch alle Staaten der Europäischen Union betroffen – auch das neutrale Österreich.

Am Abend hatten militärische Aufklärungsdienste der USA das Hauptquartier der Allianz wie auch die zentralen EU-Institutionen in Brüssel aufgeschreckt. In einem ostpolnischen Dorf, knapp an der Grenze zur Ukraine, hatte es eine Explosion nach einem Raketeneinschlag gegeben. Zwei Menschen starben.

Potenzieller Nato-Angriff

Da die russische Armee tagsüber dutzende Raketen auf ukrainische Infrastruktur abgefeuert hatte, lag der Verdacht nahe, dass Moskau für den Beschuss des Bauernhofes verantwortlich sein könnte. Erstmals wäre ein EU- oder Nato-Staat von einem anderen Land militärisch angegriffen worden.

Kann und will Österreich die Luftabwehr wirklich allein bewältigen? Experten bezweifeln das.
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Keine Kleinigkeit. Eine solche Attacke hätte bedeutet, dass in der Nato gemäß Artikel fünf des Nordatlantikvertrages wie auch in der EU gemäß Artikel 42 der EU-Verträge die Notwendigkeit einer militärischen Beistandspflicht aller Mitgliedstaaten real im Raum gestanden wäre. Wird ein Land angegriffen, wird es als Angriff auf alle verstanden. Das ist Kern einer Verteidigungsgemeinschaft.

Auch neutrale Länder, die naturgemäß nicht der Nato angehören, können sich davon nicht so einfach absentieren. Auch sie schulden angegriffenen EU-Partnern "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung".

Ernstfall abgewendet

Das Prinzip Solidarität statt Neutralität, zu dem sich Österreich bereits beim EU-Beitritt 1995 ausdrücklich bekannt hatte, träte ein. Einen Automatismus gibt es zwar nicht. Die Bundesregierung in Wien müsste erst noch einen Beschluss fassen, bei dem sie ein Hintertürl hätte. Sie könnte durch die "irische Klausel" erklären, dass sie sich militärisch nicht für Polen engagiere, weil das der Neutralitätspolitik widerspreche.

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Grafik: STANDARD

Was aber wirklich gälte und zu tun wäre, wie die EU-Partner das sähen – diesen ernsthaften Realitycheck gab es bis zum Raketeneinschlag in Przewodów am Dienstag nicht.

"Irrläufer" der ukrainischen Abwehr

Als die polnische Regierung um Mitternacht verkündete, dass die Fundstücke Teile einer S-300-Rakete russischen Bautyps seien, hielt die Welt kurz den Atem an. Am Rande des G20-Treffens auf Bali gab US-Präsident Joe Biden einige Stunden später Entwarnung. Die S-300-Rakete sei vermutlich von der Luftabwehr der ukrainischen Armee abgefeuert worden, die Flugbahn weise darauf hin. Nach einer Dringlichkeitssitzung der Nato am Mittwochvormittag wurde endgültig Dampf aus der Sache genommen. Alles deute auf einen "Irrläufer" der ukrainischen Abwehr gegen den russischen Raketenbeschuss im Osten des Landes hin, wofür Russland die Verantwortung trage, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Die Erleichterung in den Regierungszentralen war spürbar. Aber ein großes Thema lässt sich seit diesem Vorfall nun definitiv nicht mehr vom Tisch wischen, lässt sich nicht mehr verdrängen: Kann ein EU-Land im Ernstfall neutral sein?

Mehr Verantwortung in der Zeitenwende

Dabei sollte spätestens nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar klar gewesen sein, dass es auch in Europa immer noch zu zwischenstaatlichen Kriegen kommen kann. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik dürfte in den nächsten Jahren wohl kein Stein auf dem anderen bleiben: in der EU wie in der Nato.

Die "Zeitenwende", von der Deutschlands Kanzler Olaf Scholz (SPD) zu Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar gesprochen hat, findet nun real statt. Bisher wurde nur viel darüber diskutiert, dass Europäer als zweite Säule in der Nato neben den dominierenden USA viel mehr Verantwortung übernehmen, Geld ausgeben, aufrüsten müssen. Und: Obwohl die EU seit zwanzig Jahren versucht, eine eigene Militärpolitik aufzubauen, scheint klar, dass es sie vorerst kaum ohne Nato geben kann, nur innerhalb der Allianz.

Kleine große Schritte

Bald werden 23 von 27 EU-Staaten Nato-Mitglieder sein. Nur die kleinen Staaten Irland, Malta, Zypern und Österreich sind nicht dabei. Langsam wird klar, dass man ins Handeln wird kommen müssen. Oder wurden erste Schritte vielleicht gar schon gesetzt?

Franz Eder, Politikwissenschafter von der Uni Innsbruck, sagt, es sei durchaus typisch, dass die langfristig großen Entwicklungen nicht immer mit einem großen "Bang" beginnen. Manchmal gehe es um eine Politik "der kleinen Schritte". Der Weg hin zu einem gemeinschaftlich geschützten europäischen Luftraum durch die European-Sky-Shield-Initiative könnte so ein kleiner großer Schritt sein. Deutschland will die Führung übernehmen. Österreich liebäugelt mit einer Teilnahme.

Zu teuer, zu aufwändig, zu komplex

Für Eder wie auch für den Sicherheitsexperten Walter Feichtinger vom Center für Strategische Analysen ist ein Beitritt Österreichs mittel- bis langfristig alternativlos. Zu hoch die Kosten, der Aufwand und zu komplex auch die Aufgabe für Österreich, dies in adäquater Form allein zu meistern. Sollte sich Österreich hier dem Integrationsschritt verwahren, bleibe "nur mehr das Prinzip Hoffnung", sagt Feichtinger. Darauf zu hoffen, dass nichts geschieht, sei aber "unverantwortlich kommenden Generationen gegenüber."

Eine Rückkehr zur alten, relativ friedlichen Koexistenz mit Russland wie nach der Wende 1989 beziehungsweise 1991 dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird es erst einmal nicht geben. Da sind sich Regierende und Experten einig.

"Heilige Kuh" Neutralität

Für Österreich, wo breite Debatten zur Militärpolitik seit Jahrzehnten mit dem Hinweis auf die "heilige Kuh" Neutralität bereits im Keim erstickt wurden, wirft das Fragen nach der Zukunftsfähigkeit auf. Wie will sich das Land, das mitten auf dem Kontinent liegt, viele Nachbarländer und viele Konfliktzonen rundum hat, positionieren? Welche langfristige Strategie gibt es?

Die schonungslose Antwort hat Eder parat: "Österreich weiß nicht, wohin es möchte, welche Mittel es braucht. Es gibt keine Grand Strategy, aber wir investieren einmal. Und wenn es einmal zusätzliche Mittel für die Landesverteidigung gibt, weiß man nicht, wohin damit, außer in die Erhaltung des Systems."

Ablehnung einer Diskussion

Im Mai wandten sich 50 Personen des öffentlichen Lebens in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, Nationalrat und die Bevölkerung Österreichs mit der Bitte um "eine ernsthafte, gesamtstaatliche Diskussion über die sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs und die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin". Unter ihnen waren der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas, oder der ehemalige österreichische Botschafter in Moskau Emil Brix. Der Appell verhallte im Nichts.

Vom STANDARD darauf angesprochen, ob er die im Brief geforderte Expertengruppe einsetzen werde, sah sich Alexander Van der Bellen dafür nicht zuständig. Einen Nato-Beitritt lehnte er mit dem Verweis, man solle "nicht immer so bellizistisch denken", kategorisch ab.

Kein Nato-Beitritt

Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte die Neutralitätsdebatte nach den Beitrittsanfragen Schwedens und Finnlands infolge des Ukraine-Kriegs für beendet, bevor sie überhaupt richtig gestartet wurde: "Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral", sagte Nehammer im Mai. Für Österreich stelle sich diese Frage so nicht, da es eine andere Geschichte als Schweden und Finnland habe.

An deren baldigem Nato-Beitritt zweifelte Nehammer noch im April im Gespräch mit dem STANDARD, gab später aber auch zu, sich hier getäuscht zu haben. Man solle in einer sich so schnell wandelnden Zeit vorsichtig sein mit definitiven Aussagen, hieß es im Juli.

Am bedingungslosen Festhalten der in vielen Bereichen bereits weit ausgehöhlten Neutralität änderte dies dennoch nichts.

Fehlende Experten

Dabei fehlt laut Einschätzung von Eder und Feichtinger und weiteren Experten diese Debatte. Es brauche einerseits eine ehrliche Prüfung, ob das Neutralitätsgesetz unter den neuen Rahmenbedingungen noch zielführend für unsere Sicherheitsarchitektur ist, sagt Feichtinger. Also ob sie quasi auch das hält, was die Politiker sich von ihr versprechen.

Andererseits müsste man einmal ernsthaft herausfinden, was die österreichische Bevölkerung will. Will man wirklich einen nationalen Alleingang des kleinen Österreich in vielen sicherheitspolitischen Fragen, oder ist man da und dort doch bereit, die Neutralität zu opfern, um mit der EU oder gar der Nato gemeinsame Sache zu machen? Das müsste die Meinungsforschung breit und über einen längeren Zeitraum erst in Erfahrung bringen, meint Eder. Es gäbe verschiedene Optionen, wie sich das Sicherheitskonzept wandeln könnte, sagt der Politikwissenschafter – abseits vom "Weiterwursteln" oder der Hoffnung, dass die EU-Armee oder eine europäische Verteidigungsunion irgendwann, irgendwie doch einmal kommt.

Ernstgemeinte Friedenspolitik

Da wäre etwa das Schweizer Modell, ein Verstecken hinter einer neutralitätspolitischen Außenpolitik, die im Zweifel in wirtschaftlichen Fragen auch bei totalitären Staaten nicht vor Geschäften zurückschreckt. Die Schweiz ist aber nicht EU-Mitglied. Österreich könnte auch eine ernstgemeinte Friedenspolitik verfolgen, die von großzügigen Ausgaben für die internationale Entwicklungshilfe geprägt ist, in scharfer Opposition zu internationalen Rüstungsverträgen und Waffenlieferungen auftritt.

Freilich gäbe es aber auch die Option, zu einer engagierten und real wehrfähigen Demokratie wie etwa Finnland zu avancieren – wo man am Ende aber auch dazu bereit ist, bestimmte Werte militärisch zu verteidigen. Ein Nato-Beitritt wäre dafür ein logischer Schritt.

Historische Umwälzungen

Es gebe kein Richtig oder Falsch bei diesen Optionen. Es sind auch nicht die einzigen, sagt Eder. Jeder Staat entscheide letztlich selbst, was er für die beste Strategie halte. "Aber bei uns wird ja nicht einmal darüber geredet", kritisiert er. Die Weltpolitik wird aber auch Österreich zum Handeln zwingen. Vermutlich wird Österreich wie auch andere europäische Kleinstaaten zur Spezialisierung auf bestimmte Themenbereiche gezwungen, in denen man besonders viel Expertise teilen und weitergeben kann, sei es bei der ABC-Abwehr, der Logistik, nuklearer Abrüstung oder sonst wo.

Der anstehende sicherheitspolitische Umbruch, der Europa bevorsteht, erinnert an dramatische Weichenstellungen der 1980er-Jahre und daran, was in der EG passiert ist: Die Gemeinschaft steckte in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die zwölf EG-Staaten rund um den deutsch-französischen "Motor" starteten daher 1985 das Großprojekt offener Binnenmarkt. Es gab die Idee einer Währungsunion, der offenen Schengengrenzen. Als dann der Eiserne Vorhang fiel, wurde Europa komplett umgekrempelt, später nach Osteuropa erweitert.

Allein zu Haus oder solidarisch?

Nur die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die blieb ein Stiefkind, blieb jahrelang stecken. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine könnte sie nun aus ihrem Tiefschlaf wachküssen.

Ein Vorbote: Das EU- und Nato-Land Dänemark, das bisher ganz auf die Nato setzte, änderte seine Strategie, weil sich die Umstände änderten. Es beendete sein EU-vertraglich garantiertes Ausscheren in EU-Verteidigungsfragen. Im Sommer sprachen sich bei einem Referendum zwei Drittel der Bürger dafür aus.

Und sogar die Schweiz debattierte zuletzt heftig über die Neutralität. Auch wenn der Zwischenfall in Polen gut ausgegangen ist, hat der kurze Schrecken aufgezeigt: Wenn es hart auf hart geht, könnte Österreich sich nicht einfach neutral herumdrücken, müsste Farbe bekennen. Das Land wird die Debatte führen müssen, was es tut, sollte tatsächlich einmal eine feindselige Rakete auf EU-Boden einschlagen: Allein zu Haus oder solidarisch? (Thomas Mayer, Fabian Sommavilla, 19.11.2022)