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PRO: Ein lebendiger Mythos

von Conrad Seidl

Kaum etwas definiert das Selbstverständnis der Republik Österreich so deutlich wie die Neutralität. Kein Vergleich mit den Lipizzanern, lebendiges Inventar der wenig republikanischen Hofreitschule! Kein Vergleich mit den Mozartkugeln! In Erinnerung ist noch, wie Kanzler Wolfgang Schüssel vor zwei Jahrzehnten diesen Vergleich gewagt hat – und dafür schroffe Ablehnung erfuhr. Es war ein Angriff auf Österreichs Identität.

Die Neutralität ist ein mythenumrankter Fixpunkt des republikanischen Bewusstseins: Gern wird erzählt, dass der Zweiten Republik von der russischen Besatzungsmacht 1955 die Neutralität als Preis für deren Abzug aufgedrängt worden sei. Das ist nur ein Teil der Wahrheit – in Wirklichkeit taucht sie ein Jahrzehnt vorher in einem Memorandum von Heinrich Raab, dem Bruder des Staatsvertragskanzlers Julius Raab, auf.

Ein Mythos ist auch, dass uns die Neutralität ewigen Frieden bringe – den verdanken Nationen kluger Außenpolitik und adäquater militärischer Stärke. Der Nutzen der Neutralität liegt in ihrem staatstragenden Mythos: Gerade das Bundesheer hat daran kräftig mitgewirkt, um halbwegs ausgerüstet zu werden. Politiker aller Couleur haben mit unterschiedlichen Akzenten den Faden weitergewoben – mit flexibler Handhabung funktioniert die Neutralität sehr gut. So bleibt der nationale Mythos lebendig – und Österreich frei von Bündnissen und militärischen Stützpunkten fremder Nationen. (Conrad Seidl, 19.11.2022)

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NEUTRAL: Es ist, was es ist

von Katharina Mittelstaedt

Österreich ist ein durch und durch neutrales Land. Um das zu verstehen, muss man die rechtshistorische Definition der "Neutralität" nicht kennen – es reicht ein Gefühl für die Volksseele. Hätte die eine Stimme, würde sie raunzen: "Is ma wurscht." Und ist es nicht wurscht, wird’s schon irgendwer richten.

Dementsprechend ist es wenig verwunderlich, dass die Neutralität in Österreich immerwährende Popularität genießt: In einer STANDARD-Umfrage vom Mai erklärten 71 Prozent der Befragten, dass das Land neutral bleiben soll. Und es ist auch wahrlich kein unsympathischer staatlicher Wesenszug, wenn allen zugehört, abgewogen und danach vermittelt wird.

Es gibt allerdings auch gute Argumente gegen die heimische Neutralität. Allein könnte das heimische Heer das Land nicht verteidigen. Längst nimmt Österreich ohnehin an Auslandseinsätzen teil und kooperiert mit der Nato. Aktuell denkt die Regierung sogar über eine Beteiligung am europäischen Luftabwehrsystem Sky Shield nach. Ob sich das mit der Neutralität vereinbaren ließe? Wenn Österreich möchte, werden Wege gefunden, sagen Militärexperten. Die Neutralität sei oft nicht mehr als eine Frage der Auslegung. Also: Eh wurscht?

Fest steht, dass Diskussionen über die heimische Neutralität müßig sind. Solange sich in der Bevölkerung nicht überraschend die Stimmung dreht, wird sich die Politik hüten, etwas zu ändern. Es ist, was es ist, sagen gelernte Österreicher. (Katharina Mittelstaedt, 19.11.2022)

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KONTRA: Schluss mit der Feigheit

von Michael Völker

Die Neutralität wurde uns von den Russen vorgegeben. Das spricht nicht gegen die Neutralität, wird aber gerne vergessen. Österreich tut so, als ob das eine aktive, bewusste Entscheidung gewesen wäre, was nicht stimmt. Mittlerweile haben wir uns gemütlich in der Neutralität eingerichtet und sie liebgewonnen. Das ist sehr typisch Österreich: wegducken, raushalten, durchtauchen. Sich nicht deklarieren, nirgendwo anstreifen. Dem Konflikt aus dem Weg gehen. Die Neutralität, so wie wir sie anwenden, ist in erster Linie eines: feig.

Österreich versucht mit einer Tarnkappe durch die weltpolitischen Unwegsamkeiten zu steuern. Aber gerade der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat gezeigt, dass Österreich nicht neutral ist, nicht neutral sein kann und es hoffentlich auch nicht sein will. Wir stehen an der Seite der Ukraine und beziehen klar gegen den Aggressor Position. Das ist nicht neutral, das ist eine anständige und aufrechte Position.

Österreich verlässt sich auf die Staaten, die es umgeben. Irgendwer wird uns schon beschützen. Das ist unredlich. Österreich soll sich deklarieren, sich einbringen und aktiv an einem Bündnis teilnehmen. Das muss nicht zwangsläufig die Nato unter amerikanischer Dominanz sein. Das wäre im Idealfall ein europäisches Bündnis, das auf eine gemeinsame Verteidigung, ein gemeinsames Heer, eine gemeinsame Strategie setzt. Das gibt es noch nicht, aber Österreich könnte alles tun und seinen Beitrag leisten, um dort hinzukommen – und dabei das unpassend gewordene Deckmäntelchen der Neutralität abstreifen. (Michael Völker, 19.11.2022)