Gerti Drassl spielt die Hauptrolle, spielt Andrea Weingartner, wie Nicola Werdenigg in "Persona non grata" heißt.

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"Tirol traut sich nicht, über den Stoff zu sprechen", sagt Antonin Svoboda.

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Anfang November wurden die STANDARD-Räumlichkeiten für zwei Tage zur Filmkulisse umfunktioniert. Der in rund einem Jahr erscheinende Spielfilm Persona non grata arbeitet die 2017 aufgedeckten Missbrauchsfälle im österreichischen Skisport anhand der Geschichte von Nicola Werdenigg auf und hangelt sich an realen Begebenheiten entlang. Werdenigg heißt auf der Leinwand Andrea Weingartner, DER STANDARD bleibt DER STANDARD.

STANDARD: Was reizt Sie an der Geschichte der Nicola Werdenigg?

Svoboda: Dieser Stoff ist für mich exemplarisch. Es ist, als ob man seinem Schicksal nicht entkommen könnte. Als ob das Leben mit den Menschen etwas vorhat. Solche Geschichten sucht man fürs Kino, archetypisch oder metaphorisch. Es geht um Institutionen, es geht um falsche Autoritäten, um traumatische Erlebnisse. Und es geht um eine Familiengeschichte über mehrere Generationen. Welchen Rucksack hängen wir unseren Kindern um? Und sind wir uns der Konsequenzen bewusst?

STANDARD: Sie geben der Erzählung also eine zweite Ebene.

Svoboda: Ich gebe ihr eine persönliche Dimension. Das österreichische Kino kombiniert kleine private Geschichten selten mit großen gesellschaftlichen Momenten. Hier wird alles schön getrennt. Wir haben entweder das große historische Drama oder die lustige Familiengeschichte. In den USA oder in Frankreich kombiniert man das Große oft mit dem Kleinen. Ich finde diesen Zugang spannend.

STANDARD: Sie haben länger nicht als Regisseur gearbeitet. Warum jetzt wieder?

Svoboda: Ich war zuletzt als Produzent und Co-Produzent tätig. Das ist keine langweilige Arbeit, man begleitet den Prozess bis hin zu einer Oscar-Nominierung. Aber es ist etwas anderes, wenn man selbst bestimmen kann. Und ich wollte eine Frau um die 50 in den Fokus stellen. Frauen in diesem Alter sind für die Leinwand und die Streamer nicht sehr catchy. Es wird nur auf junges Publikum und junge Darstellerinnen gesetzt. Ich finde das blöd. Wo sind die Charakterdarstellerinnen?

STANDARD: Gerti Drassl spielt Andrea Weingartner. Wie schwierig war es, die Hauptrolle zu besetzen?

Svoboda: Das war nicht einfach. Dieses Drehbuch hat relativ viele Menschen, vor allem Frauen, getriggert. Sie sahen sich entweder mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert oder hatten ein Bedürfnis, darüber zu reden. Wenn die eigene Geschichte aufbricht, ist man nicht mehr fähig, diese Rolle unbefangen zu spielen. Ich freue mich, dass Gerti Drassl diese richtig große, breite Hauptrolle übernommen hat. Sie trägt das wunderbar.

STANDARD: Welche Zuschreibung würden Sie dem Film geben?

Svoboda: Ich würde ihn alsPsychodrama bezeichnen. Eine traumatisierte Frau kämpft sich zurück in eine Art von Mündigkeit und Selbstbestimmtheit, sie überwindet ihre Dämonen und Ängste. Betroffene leiden unter Zuständen, die man sich nicht vorstellen will. Welche Schmerzen hat diese Frau? Ich möchte das darstellen, ohne in Psychoklamauk abzurutschen. Man wird nicht sehen, wie sie zitternd ihren Kaffee verschüttet.

STANDARD: Wie viel Fiktion mussten Sie dem Stoff geben, damit er kinotauglich wird?

Svoboda: Es ist in der Behandlung der Thematik allein schon deshalb notwendig zu fiktionalisieren, weil ich niemanden per Namen direkt angreifen möchte. Niemand soll einen Baum aufstellen, weil er sich falsch zitiert fühlt. Ich ticke da so wie Nicola, es kann nicht um Einzelne gehen. Es geht um das Verstehen von Machtstrukturen, die bedingen, dass Individuen unter die Räder kommen.

STANDARD: Die Thematik wurde in den Medien intensiv behandelt. Keine Angst vor einer Übersättigung des Zielpublikums?

Svoboda: Wir haben doch generell von allem genug.Bei jeder Art von medialer Arbeit geht es darum, einen neuen Ansatz zu suchen. Ich muss verdichten, einen neuen Fokus finden. Ich muss Inhalte liefern, die man so noch nicht gelesen hat. Deshalb reproduziere ich nicht eins zu eins. Von einigen Menschen wurde mir deshalb die Kooperation in diesem Projekt verweigert. Aber ich möchte keine Namen nennen.

STANDARD: Welche neuen Fragen kann man aufwerfen?

Svoboda: Da gibt es viele.Wie wäre dieses Leben verlaufen, wenn die Frau nicht im Alter von 22 Jahren aus diesem System ausgebrochen wäre? Diese Frage wurde Werdenigg so nicht gestellt. Man hat gefragt, ob sie lügt, wen sie verunglimpfen will, welchen Schaden sie anrichten möchte. Aber was hat man ihrem ganzen Leben, ihrer ganzen Karriere angetan? Wem wird mehr Fokus geschenkt, und wer wird eigentlich beschützt?

STANDARD: Die Geschichte spielt in Tirol, Sie haben aber in Südtirol gedreht. Warum?

Svoboda: In Südtirol wurden wir mit offenen Armen empfangen. Zuvorhabe ich in Tirol angeklopft. Dort war man aber nicht sonderlich begeistert. Obwohl es eine Tiroler Geschichte ist. Das finde ich schade.

STANDARD: "Die drei Musketiere" wurden auch nicht am französischen Hof gedreht.

Svoboda: Ja, die 97. Auflage, als Hollywood-Fantasy. Wenn es darum geht, lokale Kultur einzufangen, ist eine Verortung wichtig. Das Land Tirol traut sich nicht, über den Stoff zu sprechen, geschweige denn ihn zu fördern. "Bitte tu das nicht, das geht nicht", haben sie gesagt. Ich war perplex. Aber offensichtlich will man Probleme lieber weiter in der Familie aufarbeiten. Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass man über diese Dinge besser nicht reden sollte. Da gibt es eine kalte Front.

STANDARD: Undwie lief die Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Skiverband (ÖSV)?

Svoboda: Wir haben für die Nutzung des Logos angefragt und nach sechs Wochen eine Antwort bekommen. Man hat uns unterstützt und alles geliefert, was wir für die Produktion benötigen. Das ist eine gute Sache. Wir machen keine Werbung für den ÖSV, wir drehen keinen Film über Franz Klammer. Aber wenn man einen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft leisten will, braucht es vielleicht unseren Film. (Philip Bauer, 20.11.2022)