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Von fehlender Förderung bis zum Leben in engen, dunklen Wohnungen: Armut hindert Kinder an der Entfaltung.

Foto: Getty Images / Carlo Allegri

Daniela Brodesser machte der Herbst Jahr für Jahr zu schaffen. Nicht die Aussicht auf Nebel und Kälte schlug ihr aufs Gemüt, sondern die Kostenlawine zu Schulbeginn. Hefte, Klassenkasse, Kopierbeitrag, eine neue Füllfeder hier, ein teurer Taschenrechner da – zu viel für die sechsköpfige Familie in ihren schlimmsten Zeiten. Doch als einzige von 40 Müttern und Vätern zu bekennen, man könne sich das nicht leisten, erzählt Brodesser, "ist einfacher gesagt als getan".

Heute wirbt die 47-Jährige dafür, den Mund ohne Scham aufzumachen – und zeigte das etwa in einer Kolumne auf moment.at vor. Von Schulden, die sich nach dem Begräbnis einer Verwandten auftürmten, berichtete die Armutsaktivistin da oder von ihren Schuldgefühlen, nachdem sie die Kinder wegen des Umzugs in eine billigere Wohnung aus dem Kreis der Schulfreunde herausreißen musste. Erleichtert war Brodesser hingegen, als Corona den Fasching ausfallen ließ. Auch Kostüme und Jausen kosten schließlich Geld.

Geht es nach den offiziellen Daten, dann sind derartige Sorgen weitverbreitet. Gut eineinhalb Millionen Menschen sind laut Statistik Austria hierzulande durch Armut oder Ausgrenzung gefährdet. Die Aussagekraft dieser auf mehreren Kriterien beruhenden Zahl ist in der Fachwelt umstritten, als gewisser Maßstab für die Entwicklung gilt der Wert aber allemal. Optimistisch stimmt der Trend demnach nicht: Zuletzt ist der Anteil der Leidtragenden an der Bevölkerung von 16,7 auf 17,3 Prozent gestiegen, wohl Folge des Wirtschaftseinbruchs in der Corona-Krise. Die Teuerungswelle, der die Regierung mit kurzfristigen Nothilfen entgegenzuhalten versucht, ist hingegen noch gar nicht eingepreist.

Wenn laufende Ausgaben überfordern

Eine Vorahnung bietet die Statistik in einer unter dem Titel "So geht’s uns heute" laufenden Befragungsserie unter 3500 Personen im Alter von 16 bis 69 Jahren. So hatten 16 Prozent – hochgerechnet 940.000 Personen – zu Sommerbeginn große Probleme, mit ihrem Einkommen die laufenden Kosten zu begleichen. 28 Prozent konnten sich Ausgaben in Höhe von 1300 Euro nicht leisten, ohne sich Geld zu leihen oder in Raten zu zahlen.

Im europäischen Vergleich stand Österreich bislang dennoch gut da – was einem wie Erich Fenninger aber bei weitem nicht reicht. Gerade die Statistik zeige doch, wie viel in einem reichen Land wie Österreich möglich sei, sagt der Direktor der Volkshilfe: Ohne die bestehenden Sozialleistungen wäre über eine Million Menschen mehr von Armut bedroht. Lege der Staat nach, schließt Fenninger daraus, sei es keine Utopie, das leidige Phänomen weitgehend auszuradieren.

Für dieses Ziel strampelt sich der Ex-Sozialarbeiter buchstäblich ab. Zur Erinnerung an jedes der 368.000 durch Armut oder Ausgrenzung gefährdeten Kinder radelte er im September einen Kilometer durchs Land – eine Werbetour für sein Konzept einer gestaffelten Kindergrundsicherung von bis zu 625 Euro pro Monat, die anstelle der bisherigen Familienleistungen nach unten umverteilen soll. Niemand solle so tun, als ob Mehrkosten von 600 bis 700 Millionen den Staat überforderten, sagt Fenninger und propagiert Vermögenssteuern zur Finanzierung: "Es sind die Superreichen, die wir uns nicht leisten können."

Im Kreislauf der Vererbung

Das Modell ziele nicht allein auf den Nachwuchs ab, erläutert der Erfinder und verweist auf den bitteren Befund einer sich über 25 Jahre erstreckenden Langzeitstudie des deutschen Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik: Wer schon als Vorschulkind in Armut lebte, blieb bei weitem nicht immer, aber doch deutlich häufiger auch im Erwachsenenalter in der Misere gefangen – was später wiederum auf die Kinder durchschlagen kann. Diesen Kreislauf der Vererbung gelte es zu durchbrechen, sagt Fenninger: "Es ist allein schon ökonomisch absurd, dass wir da zuschauen."

In Österreich brauche es im Schnitt fünf Generationen, um aus dem untersten Zehntel der Einkommensverteilung heraus auf das Niveau eines Durchschnittseinkommens zu kommen, stellte die OECD in einer Studie fest. Sozialer Aufstieg ist damit deutlich schwieriger als etwa in den nordischen Staaten.

In der Schule auf der Strecke geblieben

Auf der Suche nach den Gründen landen nicht nur die OECD-Experten auf einem ideologisch umkämpften Feld. Im Bildungssystem liege der Schlüssel, um Kindern jene Förderung zu bieten, die sie zu Hause nicht bekommen, sagt der Wirtschaftsforscher Christoph Badelt, Chef des Fiskalrats: "Doch da kann ich kein gutes Zeugnis ausstellen." Erschreckend hoch sei der Anteil jener oft mit Migrationshintergrund ausgestatteten Schülerinnen und Schüler, die am Ende der Schulkarriere nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen können. Diese Gruppe sei prädestiniert, in Armut statt in einem gut dotierten Job zu landen, sagt Badelt, "uns gehen da ganze Generationen verloren".

Die Statistik zeigt: Wer maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügt, hat ein ungleich höheres Risiko, abgehängt zu werden. Was ist dagegen zu tun? Potenzielle Gegenmaßnahmen reichen von besserer Ausstattung von Kindergärten oder "Brennpunktschulen" bis zu regelrechten Revolutionen wie einer flächendeckenden Ganztagsschule.

Kinder als Armutsrisiko

Nicht minder zahlreich sind die möglichen Hebel, um Erwachsenen auf dem Weg in einen Job zu helfen. Beschäftigungsprogramme für (ältere) Arbeitslose ließen sich ebenso ausbauen wie die immer noch vielfach ungenügende Kinderbetreuung. Kinder bergen, speziell für Alleinerziehende, nicht nur deshalb ein Armutsrisiko, weil sie Geld kosten, sondern weil sie auch an Erwerbsarbeit hindern.

Damit die Jobs gut genug bezahlt sind, um Absicherung zu bieten, merkt Christine Mayrhuber vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) an, solle der Staat den Vorreiter spielen – etwa mit höheren Gehältern in Spitälern und Pflegeeinrichtungen. Das könnte auch private Institutionen zwingen, auf der Suche nach gutem Personal nachzubessern.

Doch bei allen Bemühungen um die Selbstermächtigung der Menschen: Am Ende führe an einer Erhöhung der Mindestsicherung vulgo Sozialhilfe, quasi letztes Auffangnetz, kein Weg vorbei, sagt Mayrhuber. Mit 978 Euro für Einzelpersonen liegt das Niveau schließlich deutlich unter der aktuellen Armutsgefährdungsschwelle von 1371 Euro.

Ihr Kollege Badelt stimmt in diese Forderung nicht bedingungslos ein. Damit genug Anreiz zum Arbeiten bleibe, müssten gleichzeitig die Löhne steigen, gibt er zu bedenken. Doch das würde dazu führen, dass manche Unternehmen am Markt nicht mehr konkurrenzfähig sind: "Eine simple Lösung für dieses Dilemma kenne ich nicht."

Investitionen, die sich lohnen

Eine ähnliche Debatte dreht sich um das Arbeitslosengeld, das bei nicht mehr als 55 Prozent des Nettolohnes liegt. Die Gefahr der Armut oder Ausgrenzung steigt laut Statistik enorm mit der Zeitspanne ohne Job – nach einem Jahr sind 75 Prozent der Arbeitslosen betroffen. Doch dem Ruf nach einer Erhöhung schallt die Warnung vor den fehlenden Anreizen entgegen: Vielmehr brauche es eine degressive Leistung, die am Anfang höher liege, aber mit der Bezugsdauer sinke. Um einen Kompromiss ringt die türkis-grüne Regierung seit vielen Monaten ergebnislos.

Als Sprecher der Armutskonferenz steht Martin Schenk auf der Seite der Erhöhung – und sieht viele weitere Lücken im System. Alleinerzieherinnen, eine der Risikogruppen schlechthin, würde helfen, wenn Väter auf staatlichen Druck verlässlicher mehr Unterhalt zahlten. Psychisch angeknackste Kinder kämen leichter durch Schule und Leben, fehlte es nicht rundum an Therapieangebot.

Besonders zeitig würde ein Ausbau der sogenannten Frühen Hilfen für überforderte Eltern vorbeugen: Mehr als die Hälfte aller Familien, die eine solche Leistung bisher nützen, sind armutsgefährdet.

Da die Profiteure später am Arbeitsmarkt besser zurechtkämen, würde sich jeder investierte Euro vielfach rechnen, ist Schenk überzeugt. Ob Armut mit genügend Einsatz völlig auszurotten sei? So weit geht der Experte nicht. Alle Risiken des Lebens könne der Staat kaum abfangen, und nicht jeder lasse sich helfen: "Ein solcher Versuch könnte rasch in ein totalitäres Projekt münden." (Gerald John, 19.11.2022)

Update: In der ursprünglichen Version wurde die Kolumne von Daniela Brodesser irrtümlich einem falschen Medium zugeordnet. Sie erscheint unter dem Titel "Armutsprobe" auf moment.at. Wir bedauern den Fehler und haben ihn korrigiert.