Die Neutralität macht die Bevölkerung stolz – symbolträchtig am "Tag der Fahne" gefeiert, in der Praxis ausgehöhlt.
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Am neutralen Status unserer Republik zu rütteln tut innenpolitisch nicht gut: Die ÖVP ist davon abgekommen, der Parteispitze dürfte bewusst sein, dass sechs von zehn ÖVP-Anhängern stolz auf die Neutralität sind. In den Wählerschaften von SPÖ und FPÖ ist es nicht viel anders, wie im heurigen Sommer eine Market-Umfrage im Auftrag des STANDARD ergeben hat.

Dass man das zur Kenntnis nehmen muss, war schon in den 1990er-Jahren dem damaligen Leiter des Militärwissenschaftlichen Büros (MWB) im Verteidigungsministerium, Erich Reiter, klar. Der engagierte Liberale hielt die österreichische Neutralität für die Außen- und Sicherheitspolitik für hinderlich, vertrat diese Meinung auch in zahlreichen Publikationen – machte sich aber keine Illusion darüber, dass Österreichs Politik daran festhalten wird. "Was wir brauchen, ist ein Neutralitätsaushöhlungsgesetz", scherzte er wiederholt.

Österreich müsse seine Neutralität formell hochhalten – und sie gleichzeitig unterlaufen, wenn es eben die Lage erfordert.

Finnland und Schweden wollen in die Nato. Ist das auch für Österreich denkbar? Was dafür und was dagegen spricht.
DER STANDARD

Verändertes Narrativ

Genau nach diesem Prinzip wird die heimische Sicherheitspolitik seit Anfang der 1990er-Jahre auch betrieben. War es zu Beginn des Beitrittsprozesses zur (damaligen) EG noch umstritten, ob dies mit der 1955 erklärten "immerwährenden Neutralität" vereinbar wäre, hat Österreich ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion deutlich unbeschwerter agiert. Ab der Ära von Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ, 1986 bis 1997) setzte sich das Narrativ durch, dass Österreich seine Neutralität zwar nach Schweizer Muster eingerichtet habe, sie aber stets selbst interpretieren werde.

Das passierte dann anlassbezogen: Zwar schließt Neutralität aus, dass eine Kriegspartei begünstigt würde, doch hat Österreich 1991 zugestimmt, dass 103 amerikanische Bergepanzer von Deutschland über österreichisches Gebiet an die Front in den Golfkrieg transportiert werden – die "Operation Wüstensturm", in der diese Panzer eingesetzt wurden, um irakische Soldaten in ihren Schützengräben lebendig zu begraben, war immerhin von der Uno mandatiert.

Wo ein Uno-Mandat vorliegt, muss ein Neutraler nicht beiseitestehen, lautet die österreichische Eigeninterpretation der Neutralität.

Neutraler Kernbestand

Der Europa- und Verfassungsrechtsprofessor Peter Bußjäger spricht im STANDARD-Gespräch denn auch von einem "Kernbestand der Neutralität nach der Avocado-Doktrin". Das bedeute, dass Österreich sich als frei von fremden Stützpunkten und frei von militärischen Bündnissen definiere und eine aktive Kriegsteilnahme ablehne. Aber selbst das "ist eine sehr kontroverse Geschichte und letztlich unklar", wie Bußjäger einräumt.

Denn die von der ÖVP vor allem unter ihrem damaligen Parteichef Wolfgang Schüssel (1995–2007) ins Auge gefasste Nato-Mitgliedschaft wird breit abgelehnt – hier wirken alte grüne Feindbilder aus der Zeit der Friedensbewegung ebenso mit wie deutschnationaler Antiamerikanismus und aktuelle russische Propaganda. Ganz im Sinne der Empfehlung des 2015 verstorbenen Erich Reiter, der lange Zeit die österreichische Bundesregierung beraten hat, hat Österreich der Nato-Mitgliedschaft zwar offiziell abgeschworen, gleichzeitig aber gleich an mehreren Nato-Projekten teilgenommen.

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Eine Partnerschaft für den Frieden

Vor allem betrifft das die Partnerschaft für den Frieden (PfP), ein 1994 gestartetes Projekt, über das sich auch die neutralen Staaten Finnland, Irland, Schweden und die Schweiz dem Nordatlantikpakt angenähert haben. 1998 beschloss der Ministerrat, die Zusammenarbeit im Rahmen der PfP auf den gesamten Bereich der friedensunterstützenden Operationen auszudehnen. 2001, wenige Tage nach den Al-Kaida-Anschlägen in New York und Washington, fand dann in Österreich die PfP-Übung "Cooperative Best Effort" mit Truppen aus Nato- und PfP-Staaten statt.

Dies weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Allzu deutlich wollte die Regierung die Annäherung an die Nato denn doch nicht kommunizieren. Für das Bundesheer war die Ausrichtung dieser Großübung allerdings mit hohem Erkenntnisgewinn über den eigenen Ausbildungsstand und die eigene Leistungsfähigkeit verbunden. War schon damals ein Großteil des Geräts und der Bewaffnung mit Nato-Systemen kompatibel, so ist Interoperabilität seither absolute Priorität.

Unter Nato-Kommando

Tatsächlich arbeitet das Bundesheer im Rahmen der Nato auch an Einsätzen mit. Bekannt ist das österreichische Engagement in der Kfor im Kosovo – weniger im Bewusstsein der heimischen Öffentlichkeit verankert ist die Tatsache, dass es sich dabei um einen Einsatz unter Nato-Kommando handelt, wenn auch unter UN-Mandat.

Das ist andererseits auch ein Hinweis darauf, dass die Zusammenarbeit mit der Nato innenpolitisch kaum noch Konfliktstoff bietet. Vor allem, wenn man die europäische Komponente solcher Einsätze in den Vordergrund stellt. Das kommt in Umfragen besser an und ist mit wenig Verbindlichkeit auch als politische Vision akzeptiert. Ex-Kanzler Vranitzky hat kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine dafür geworben, bei der ÖVP steht es sogar im Parteiprogramm – nur die FPÖ ist deutlich dagegen.

Schönheitsfehler der Überlegungen zur Europaarmee: Für eine solche Armee gibt es kaum eine Grundlage, de facto verlassen sich jene EU-Staaten, die Nato-Mitglieder sind, eben auf die Nato. Sie zeigen wenig Lust, eine parallele Struktur aufzubauen. Schon bei Aufstellung der EU-Battlegroups vor 20 Jahren zeigten sich die Schwierigkeiten. Die Grundidee war, dass Europa für jeweils einige Monate eine schnell einsetzbare und aus Einheiten mehrerer Nationen zusammengesetzte Eingreiftruppe bereithalten sollte, um eigenständig militärische Kräfte einsetzen zu können.

Viele Heeresaufgaben sind nur auf EU-Ebene lösbar.
Foto: BUNDESHEER/Guenter Filzwieser

Auf der Auswechselbank

Das Bundesheer hat Teile zu mehreren dieser Battlegroups eingemeldet – wobei diese allerdings nie eingesetzt wurden. Das hätte auch jeweils einen nationalen Beschluss bei den einzelnen Truppenstellern erfordert, was im neutralen Österreich der Idee einer schnellen Verfügbarkeit widerspricht.

Was tatsächlich seit 2017 passiert, ist eine breite Zusammenarbeit der nationalen Armeen – durchaus mit strukturierter Planung. Das System dafür heißt Pesco (Permanent Structured Cooperation) und soll eine europäische Schwergewichtsbildung ermöglichen – was den USA zunächst nicht gefallen hat, weil sie um ihren Einfluss in der Nato bangen musste. Dabei geht es um viel Geld, weil Pesco auch europäische Rüstungsprojekte in Konkurrenz zur dominierenden US-Verteidigungsindustrie vorantreiben soll.

Österreich hat sich bei acht Pesco-Vorhaben eingebracht – für das Projekt der Überwachung chemischer, biologischer und radioaktiver Kampfmittel hat es sogar die Leitungsfunktion übernommen.

Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass viele Verteidigungsaufgaben in Europa nur noch schwer auf nationaler Ebene gelöst werden können. So wird auf europäischer Ebene – unter Beteiligung des Bundesheers – etwa bei den militärischen Transportkapazitäten zusammengearbeitet: Es können sich nicht alle Armeen alles an Transportfliegern leisten, was man im Einsatzfall brauchen würde.

Ganz ähnlich ist es bei der internationalen Zusammenarbeit gegen Cyberangriffe. Dasselbe wird nun – in koalitionärer Einigkeit zwischen ÖVP und Grünen – für die (bodengestützte) Luftabwehr vorgesehen. Dabei müssen ja Systeme grenzübergreifend eingesetzt werden, um rechtzeitig reagieren zu können.

Bußjäger findet da nichts dabei: "Die Verteidigung des eigenen Territoriums wird vorrangige Aufgabe bleiben. Ich fürchte, da wird von überschüssigen Kräften des Bundesheers nicht viel übrig bleiben." (Conrad Seidl, 19.11.2022)