Gianni Infantino spricht Klartext.

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Al Rayyan – FIFA-Präsident Gianni Infantino hat einen Tag vor dem Eröffnungsspiel die "Doppelmoral" westlicher Nationen gegen WM-Gastgeber Katar angeprangert. "Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3.000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3.000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen", sagte der 52-Jährige auf einer Pressekonferenz am Samstag in Al-Rayyan.

Es sei "traurig", diese "Doppelmoral" erleben zu müssen. Katar steht seit Jahren wegen des schlechten Umgangs mit Menschenrechten sowie den Lebensbedingungen für ausländische Arbeiter in der Kritik, die auch von unabhängigen Organisationen wie Amnesty International geäußert wurde. Die Regierung des Emirats weist das zurück.

"Wer kümmert sich um die Arbeiter?"

"Wie viele dieser westlichen Unternehmen, die hier Milliarden von Katar erhalten – wie viele von ihnen haben über die Rechte von Arbeitsmigranten gesprochen? Keiner von ihnen", sagte Infantino, ohne Beispiele anzuführen. "Wer kümmert sich um die Arbeiter? Wer? Die FIFA macht das, der Fußball macht das, die WM macht das – und, um gerecht zu sein, Katar macht es auch."

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Katar biete den Arbeitsmigranten eine Perspektive. "Sie verdienen hier das Zehnfache von dem, was sie in ihrer Heimat verdienen. Und sie machen das legal. Wir in Europa schließen unsere Grenzen, und wir erlauben diesen Menschen nicht, legal in Europa zu arbeiten. Wir alle wissen, dass es illegale Arbeit in Europa gibt. Wenn ihr euch wirklich um das Schicksal dieser Menschen scheren würdet, bietet das, was Katar macht: Chancen! Legale Chancen. Gebt ihnen Arbeit, gebt ihnen Sicherheit."

Er verstehe nicht, wieso die Fortschritte in Katar nicht anerkannt würden, sagte der FIFA-Präsident, der in Doha einen Nebenwohnsitz hat. "Diese Art und Weise, einseitig Lektionen erteilen zu wollen, das ist heuchlerisch." Natürlich gebe es Dinge, die noch nicht funktionieren. Es sei ein Prozess. Wissen Sie, wann Frauen in meiner Heimat Schweiz im letzten Kanton das Wahlrecht erhalten haben? In den 1990ern. Lassen sie uns in den Spiegel schauen. Und lassen sie uns versuchen, andere durch Austausch zu überzeugen, nicht durch einseitige Moral."

Seine Pressekonferenz eröffnete der Schweizer mit: "Heute fühle ich sehr starke Gefühle, heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant."

"Egal, welche Religion, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung"

Außerdem sicherte Infantino allen queeren Menschen zu, dass sie in Katar herzlich willkommen sind. "Es ist eine klare Anforderung der FIFA, dass alle, die herkommen, willkommen sein müssen. Egal, welche Religion, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sie haben." Die katarische Regierung halte sich daran, betonte der FIFA-Chef.

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Die FIFA und das katarische Regime betonen immer wieder, dass auch LGBTIQ-Personen bei der WM willkommen sind. Menschenrechtsorganisationen berichten währenddessen von willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und Konversionstherapien. Wie es um die LGBTIQ-Rechte im Golfstaat wirklich steht.
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Die Sicherheit und Freiheit der Menschen der LGBTQI+-Community ist neben den Lebensbedingungen für die ausländischen Arbeiter in Katar eines der großen und besorgniserregenden WM-Themen.

Infantino betonte, Veränderungen erreiche man nur im Dialog. "Wenn jemand denkt, es reicht, harsche Kritik zu üben, das nützt nichts, das wird als Provokation gesehen", sagte der Schweizer. "Die Reaktion wird dann eher sein, sich noch mehr zu verschließen."

Wandel brauche Zeit, auch er selbst habe seine Haltung gegenüber diesen Themen im Laufe der Jahre verändert. "Natürlich bin ich überzeugt, dass es erlaubt sein sollte, aber auch ich habe einen Prozess durchlaufen", sagte er in Bezug auf drohende Strafen für Homosexuelle in Katar. Laut Gesetz ist Homosexualität in dem Land verboten und wird mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft.

"Purer Rassismus"

In seiner sämtliche Themen umfassenden Rede wies Infantino die Kritik an angeblich gekauften Fanparaden zurück. "Jeder in der Welt hat das Recht, für wen auch immer zu sein. Kann jemand, der wie ein Inder aussieht, nicht für Deutschland oder Spanien sein? Toleranz beginnt bei uns selbst. Das ist Rassismus, purer Rassismus – das muss aufhören."

Einem vielerorts geforderten WM-Ausschluss des Iran kann der Schweizer nichts abgewinnen. "Es spielen nicht zwei Regimes, keine zwei Ideologien gegeneinander, sondern zwei Mannschaften. Müssen wir alle ausschließen, weil ein paar Menschen schlecht sind? Glauben Sie, dass alle Iraner Monster sind? Sie kritisieren und spalten. Wollen Sie einen weiteren Weltkrieg? Okay, machen Sie weiter so."

Das zwei Tage vor Turnierbeginn verkündete Alkoholverbot in und um die Stadien verteidigt der Schweizer: "Wenn Fans für drei Stunden am Tag kein Bier trinken können, werden sie das überleben. Es gibt die gleichen Regeln in Frankreich, Spanien oder Schottland, wo auch kein Bier in den Stadien erlaubt ist. Ganz ehrlich: Wenn das unser größtes Thema bei der WM ist, dann werde ich das sofort unterschreiben, zum Strand gehen und bis zum 18. Dezember entspannen."

Last but not least glaubt Infantino an eine tolle WM: "Viele schauen wahrscheinlich trotzdem heimlich. Wenn du ein Fußball-Fan bist, gibt es nichts Größeres als eine WM. Wer zuschaut, wird den besten Fußball aller Zeiten und die größten Emotionen sehen. Die Fans werden es genießen, wie sie noch nie eine WM genossen haben. Ich bin überzeugt, dass diese WM hilft, die Augen vieler Menschen der westlichen für die arabische Welt zu öffnen." (APA, dpa, sid, red, 19.11.2022)