ORF zwischen Grundsatzdebatte über künftige ORF-Aufgaben und Gremienreform und rascher Reparatur der GIS.

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Wien – Eine mit Zweidrittelmehrheit abgesicherte, automatisch der Inflation angepasste ORF-Finanzierung aus dem Bundesbudget könnte den ORF und die Politik vor der Versuchung von Eingriffen wie in der Chat-Affäre schützen. So beurteilt Medienethiker Matthias Karmasin im Gespräch mit dem STANDARD den Vorstoß der Grünen zur künftigen ORF-Finanzierung ohne GIS.

Aber: Eine solche abgesicherte Finanzierung alleine reiche nicht, sagt Kommunikationswissenschafter Karmasin (Akademie der Wissenschaften, Universität Klagenfurt): Es brauche zugleich eine grundlegende Diskussion darüber, was der ORF künftig leisten soll. Und es brauche eine Reform der Gremien – Karmasin ist selbst Mitglied des ORF-Publikumsrats, entsandt von der Akademie der Wissenschaften.

Bund statt GIS: Der Vorstoß der Grünen

Die Mediensprecherin der Grünen, Eva Blimlinger, hat am Freitag im STANDARD-Interview vorgeschlagen, den ORF künftig aus dem Bundesbudget zu finanzieren – aber ausgehend vom bisherigen GIS-Volumen, automatisch inflationsangepasst und all das mit Zweidrittelmehrheit im Nationalrat abgesichert.

Die Reaktionen

Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) äußerte sich am Wochenende auf STANDARD-Anfrage nicht zu dem Vorschlag Blimlingers. Auch die Mediensprecher von SPÖ und FPÖ reagierten am Wochenende nicht auf Anfragen dazu.

"Unfertige Pläne"

ÖVP-Mediensprecher Kurt Egger zeigte sich auf STANDARD-Anfrage "überrascht" von dem Vorstoß. Er sprach von "unfertigen Plänen", die er nicht öffentlich diskutieren wolle und damit "ORF-Mitarbeiter sowie Gebühren- und Steuerzahler ratlos zurückzulassen." Aber: "In den Verhandlungsrunden zum ORF werden wir diese bewerten." Nach STANDARD-Infos war Budgetfinanzierung des ORF auch in der ÖVP Thema, aber auch eine Haushaltsabgabe oder eine um Streaming erweiterte GIS-Gebühr mit deutlich gekürztem Volumen für den ORF.

ORF-Stiftungsrat Thomas Zach (ÖVP) ist Vorsitzender des Finanzausschusses im obersten ORF-Gremium. Er erklärt: "Über das Finanzierungsmodell des ORF hat der Gesetzgeber zu entscheiden. Aus Sicht des Aufsichtsrats ist es nur wesentlich, dass mit dem jeweiligen Modell der gesetzliche Programmauftrag auch finanziell abgesichert ist und die Entscheidung so rechtzeitig fällt, dass der ORF die entsprechenden Vorbereitungen für allfällig notwendige organisatorische Änderungen treffen kann. Also bis spätestens Ende des ersten Quartals 2023."

"Da geht es um rund 750 Millionen Euro."

ORF-Stiftungsrat Heinz Lederer (SPÖ) gibt zu Bedenken: Der Verfassungsgerichtshof verlange ORF-Finanzierung auch für die bisher ausgenommenen Streamingnutzer. Durch sie entgingen dem ORF nach seinem Informationsstand 70 bis 100 Millionen Euro pro Jahr – eine neue Finanzierung müsse also über die bisher 660 Millionen Euro für den ORF aus der GIS hinausgehen. "Da geht es um rund 750 Millionen Euro", rechnet Lederer seine Interpretation des VfGH-Entscheids hoch. Das Volumen müsse jedenfalls das bestehende ORF-Angebot und Streamingpläne finanzieren – abgestimmt jedoch mit den anderen Stakeholdern im Markt, also privaten Medienhäusern. Eine Junktimierung der Finanzierung mit Angebotskürzungen – etwa weniger Sender – oder einer Gremienreform lehnt Lederer ab – auch wegen der knappen Zeit für die Finanzierungsreform.

Lederer will alle drei Lösungsoptionen geprüft wissen – also um Streaming erweiterte GIS, Haushaltsabgabe und Budgetfinanzierung. Welche lasse sich – so die Vorgabe des Höchstgerichts – bis 1. Jänner 2024 umsetzen? Eine Budgetfinanzierung könne eine eingehendere beihilfenrechtliche Prüfung des ORF durch die EU-Kommission bedeuten als eine Haushaltsabgabe, vermutet Lederer im Gespräch mit dem STANDARD.

"Weniger lineare Sender und mehr online Möglichkeiten."

ORF-Stiftungsrat Niki Haas (FPÖ) erklärt auf Anfrage zu Blimlingers Vorschlag: "Grundsätzlich ist der Vorstoß zur Budgetfinanzierung zu begrüßen. Die Details muss man sich ansehen. Längere Budgetierungsintervalle und höhere Quoren zur Vermeidung von Beeinflussung durch die Politik fände ich auch gut. Meiner Einschätzung nach muss die Budgetierungsfrage aber einhergehen mit einer Restrukturierung und Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten. Weniger lineare Sender und mehr online Möglichkeiten."

"Wir müssen zuerst über seine Aufgabe sprechen, dann über die Finanzierung des ORF."

Neos-Mediensprecherin Henrike Brandstötter sieht in Blimlingers Aussagen "keinen konkreten Vorschlag, sondern sehe einen Kessel Buntes voller Konjunktive." Brandstötter verlangt eine grundsätzlichere Diskussion über den ORF, und was er tun soll: "Wir müssen zuerst über seine Aufgabe sprechen, dann über die Finanzierung. Die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird, ist unwürdig gegenüber dem ORF."

Warum es eine Neuregelung der GIS braucht: Der Verfassungsgerichtshof hat Ende Juni entschieden, dass die Rundfunkgebühren der Verfassung widersprechen, solange wie bisher für eine wesentliche Nutzungsmöglichkeit wie Streaming keine GIS anfällt. Bis Ende 2023 muss der Gesetzgeber eine neue Regelung finden. Deutschland und die Schweiz finanzieren ihren öffentlich-rechtlichen Rundfunk über eine Haushaltsabgabe; die Mehrzahl der europäischen Länder tun das – im Detail unterschiedlich geregelt – über das Staatsbudget.

Medienwissenschafter Matthias Karmasin urgiert strukturelle Vorkehrungen gegen Einflussversuche der Politik bei Medien – nicht erst seit der Chat-Affäre.
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Karmasin: "Politik vor der permanenten Versuchung schützen, bei Medien einzugreifen"

Kommunikationswissenschafter Karmasin sieht den Vorschlag der Grünen Mediensprecherin im Rahmen der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Das Höchstgericht verlangt, die ORF-Finanzierung langfristig und unabängig sicherzustellen.

"Die Absicherung durch eine Zweidrittelmehrheit ist sicher eine gute Möglichkeit, das mittelfristig sicherzustellen", sagt Karmasin im Gespräch mit dem STANDARD. "Jedes strukturelle Vorgehen, das die Politik vor der permanenten Versuchung schützt, bei Medien einzugreifen, ist ein guter Weg. Das schützt die Politik zu einem gewissen Grad vor der Versuchung, allzu stark über die Finanzierung in Medien einzugreifen" – wie bei den Debatten alle fünf Jahre über GIS-Erhöhungen.

Strukturelle Vorkehrungen gegen nächste Chat-Affäre

Die jüngste Affäre um Chats freiheitlicher Regierungspolitiker und Stiftungsräte über "totale Personalrochaden" und Umbauten beim ORF aus 2019 und Chats von Heinz-Christian Strache und Thomas Schmid mit Chefredakteuren über Eingriffe seien ein wesentlicher Anlass für eine grundsätzlichere, strukturelle Debatte: "Wie können Medien transparenter, besser und unabhängiger werden. "

Die Chat-Affäre sei vor allem "individualethisch" diskutiert worden – also Verfehlungen von einzelnen Führungskräften. Karmasin drängt auf – zusätzlich zur Aufarbeitung – strukturelle Vorkehrungen wie Qualitätsssicherungssysteme, Redaktionsstatute, klare Trennung von kaufmännischen und journalistischen Aufgaben in Medienhäusern, Aus- und Weiterbildung, Selbstbeobachtungsmechanismen.

"Struktur für maximale Qualität und Unabhängigkeit"

Karmasin würde empfehlen, "zuerst darüber nachzudenken, welche Struktur des Mediensystems in Österreich wollen wir, wie können wir maximale Qualität und Unabhängigkeit erreichen? Dann reden wir über die Finanzierung."

Mit Blick auf den ORF sagt Karmasin: "Es wäre durchaus sinnvoll, eine neue ORF-Finanzierung mit einer Gremienreform zu verbinden und gemeinsam mit dem künftigen Leistungsspektrum des ORF zu denken."

"Unabhängig davon, ob das im Regierungsprogramm steht", setzt Karmasin nach, denn: Die ÖVP – mit ihrer alleinigen Mehrheit im ORF-Stiftungsrat – lehnt bisher stets eine Gremienreform ab mit dem Argument, sie stehe nicht im Regierungsprogramm. "Die Regierung hat aus aktuellem Anlass viel gemacht, das nicht im Regierungsprogramm steht." (fid, 20.11.2022)