Im Gastkommentar legt Mark Leonard, Direktor des Thinktanks European Council on Foreign Relations, dar, was eine Wiederwahl Trumps für die Beziehung zwischen den USA und Europa bedeuten würde.

Er will es noch einmal wissen – und seine Fans, aber längst nicht alle Republikaner, sind begeistert: Donald Trump will wieder US-Präsident werden.
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Die europäischen Staats- und Regierungschefs atmen hörbar auf, nachdem die "rote Welle", die sich die Republikaner bei den US-Zwischenwahlen erhofft haben, ausgeblieben ist. Doch anstatt die Zeit zum Feiern zu nutzen, müssen sich die Europäer auf den nächsten möglichen Sturm vorbereiten.

Europa hat im vergangenen Jahr von einer außergewöhnlichen transatlantischen Geschlossenheit profitiert. Die amerikanisch-europäische Partnerschaft hat auf Russlands Invasion in der Ukraine nahtlos mit koordinierten Sanktionen reagiert, und die Vereinigten Staaten haben europäische Regierungen konsultiert, bevor sie mit dem Kreml Gespräche über die Zukunft der europäischen Sicherheit geführt haben. Der Nato, das Bündnis, das der französische Präsident Emmanuel Macron 2019 als "hirntot" bezeichnete, geht es ausgezeichnet, und sie ist bereit, Finnland und Schweden als neue Mitglieder zu begrüßen. Und die Europäer geben endlich mehr für Verteidigung aus, wobei sogar Deutschland das lange versprochene Ziel von zwei Prozent des BIP erreicht hat.

"Es herrscht ein starkes Gefühl, dass 'der Westen wieder da ist'."

Zudem gibt es unter den Amerikanern und Europäern ein Einvernehmen über die strategische Herausforderung, die China darstellt, insbesondere jetzt, da der chinesische Präsident Xi Jinping, der mit wirtschaftlichen Drohungen und einer kriegerischen Außenpolitik regiert, seine Macht ausgebaut und gefestigt hat. Es herrscht ein starkes Gefühl, dass "der Westen wieder da ist". Die USA und Europa nutzen eine neu entdeckte politische Einigkeit zur Unterstützung gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Vision von der Art von Welt, die sie wollen.

Weniger zahlen?

Doch es ziehen bereits Gewitterwolken auf. Kurzfristig könnte ein von den Republikanern kontrolliertes Repräsentantenhaus immer noch versuchen, die Vorstellung zurückzudrängen, dass die USA einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Kosten für die Verteidigung der Ukraine übernehmen sollten. Die USA haben 24 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe für die Ukraine zugesagt, während Europa nur die Hälfte dessen beisteuert. Warum sollten die Amerikaner mehr zahlen als die Nachbarn der Ukraine?

Darüber hinaus könnten Debatten darüber, wie ein ukrainischer Sieg zu definieren ist, längerfristig zu neuen Spannungen führen. Während die Regierung von Joe Biden sowie Frankreich und Deutschland angemerkt haben, dass es irgendwann zu Friedensverhandlungen kommen muss, haben Polen und die baltischen Staaten deutlich gemacht, dass sie Russland gedemütigt sehen wollen.

Spannungen unter der Oberfläche

Auch im Hinblick auf China gibt es Spannungen, die unter der Oberfläche brodeln. Die transatlantischen Verbündeten bewegen sich zwar alle in dieselbe Richtung, aber das bedeutet nicht, dass sie dasselbe Ziel anstreben. So war etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz unlängst in Peking zu Besuch und zeigte wenig Interesse an einer Entkopplung der europäischen und chinesischen Wirtschaft.

Die protektionistischen Erwägungen, die den milliardenschweren Gesetzespaketen (US Chips and Science Act, Inflation Reduction Act, IRA) und der Entscheidung des Handelsministeriums zugrunde liegen, die Zusammenarbeit in High-Tech-Sektoren zu beschränken, haben unter den Europäern ebenfalls Beunruhigung ausgelöst. Durch das Klima- und Sozialpaket IRA wird der US-Markt für Elektrofahrzeuge sogar für Unternehmen verbündeter Partner wie Europa, Japan und Südkorea nahezu geschlossen. Die Europäer sind zu Recht besorgt, dass sie zu Kollateralschäden im US-amerikanischen Wirtschaftskrieg gegen China werden – und sie wurden bisher noch nicht um diplomatische Unterstützung in Bezug auf Taiwan gebeten.

Trumpismus ist nicht tot

Die größte Gefahr geht jedoch nach wie vor von der US-Innenpolitik aus. Viele Kommentatoren haben gefragt, ob das relativ schwache Abschneiden der Republikaner bei den Zwischenwahlen das Ende von Donald Trumps Kontrolle über die Partei signalisiert. Nicht nur sind viele von Trump unterstützte Kandidaten gescheitert – es hat darüber hinaus der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, einer der führenden Anwärter auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2024, seine Wiederwahl mit einem Erdrutschsieg gewonnen. DeSantis ist beliebt, aber wenn er Trump herausfordert, könnte ihn am Ende das gleiche Schicksal ereilen wie Jeb Bush und all die anderen, denen die republikanischen Vorwahlwähler 2016 eine Absage erteilt haben.

"Die republikanischen Kandidaten werden weiterhin einen Kulturkrieg mit verbrannter Erde führen."

Noch wichtiger ist, dass der Trumpismus nicht tot ist. Die republikanischen Kandidaten werden weiterhin einen Kulturkrieg mit verbrannter Erde führen und die Trump’schen Positionen gegen Freihandel, Einwanderung, ausländische Interventionen und Europa vertreten. Und angesichts des sich verschlechternden Zustands der Weltwirtschaft könnten die Bedingungen für die Republikaner günstig sein, bei den nächsten Wahlen besser abzuschneiden, insbesondere wenn sie aus ihren Fehlern im Jahr 2022 lernen.

Aus all diesen Gründen müssen die Europäer die nächsten zwei Jahre nutzen, um ihre Abhängigkeit von den USA zu verringern. Wenn Biden erneut kandidiert und gewinnt, kann ein unabhängigeres Europa ein viel besserer Partner für die USA sein. Sollte jedoch Trump oder eine andere euroskeptische Person gewählt werden, sind die Europäer zumindest besser aufgestellt, um den Sturm zu überstehen. Da die Europäer nur zwei Jahre Zeit haben, um wirksame Schutzmaßnahmen gegen eine künftige rote Welle zu errichten, ist es an der Zeit, ihre eigene Art von Mauer zu bauen. (Mark Leonard, Übersetzung: Sandra Pontow, Copyright: Project Syndicate, 21.11.2022)