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Norbert Wess empfängt den STANDARD in New York, dem größten der nach Metropolen benannten Besprechungsräume seiner Kanzlei. Dort wartet schon Roland Kier, gemeinsam haben die beiden gerade die zweite Auflage des Handbuchs Strafverteidigung mit Beiträgen von 32 Anwälten herausgegeben. Zu den neuen Kapiteln zählen etwa "Die Rolle des Verteidigers bei Hausdurchsuchungen". Gemeinsam sind sie auch in die politisch brisante Causa Umfragen involviert: Kier will Thomas Schmid zum Kronzeugenstatus verhelfen, Wess verteidigt Ex-Ministerin Sophie Karmasin (ÖVP).

STANDARD: Im Handbuch schreibt Universitätsprofessor Peter Lewisch, die Kronzeugenregelung habe "ungeachtet ihrer extrem weiten Voraussetzungen die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt". Braucht das Handbuch angesichts aktueller Entwicklungen bald eine dritte Auflage?

Wess: Was Lewisch zu Recht beleuchtet, ist, dass es die Regelung seit 2011 gibt und sie mehrfach befristet und evaluiert wurde. Daran erkennt man, dass etwas kontroversiell betrachtet wird.

STANDARD: Warum ist das so?

Wess: Es steht prinzipiell im Widerspruch zum österreichischen Strafrechtsverständnis, wenn jemand bei besonders schweren Straftaten komplett straffrei gehen kann. Man kann überspitzt sagen, dass die derzeitige Regelung auch unterstützt, dass ein Straftäter weitere Straftaten einsammelt, diese versteckt, sie nie anzeigen würde und sie dann – aber eben: nur dann – hervorzaubert, wenn es ihn selber strafrechtlich erwischt. Das muss man nicht zwingend schön finden.

STANDARD: Hat Ihre Meinung etwas mit dem Kronzeugenstatus für Sabine Beinschab zu tun, die gegen Ihre Mandantin ausgesagt hat?

Wess: Ich meine das völlig abstrakt; das wurde schon bei der Strafrechtslehrtagung vor vielen Jahren thematisiert, als es dieses Verfahren noch lange nicht gab.

STANDARD: Zum Thema Kronzeugenschaft wollen Sie, Herr Kier, gar nichts sagen. Prinzipiell reden Sie kaum mit Medien. Warum eigentlich?

Kier: Mein Zugang zur Strafverteidigung hat mit Öffentlichkeitsarbeit nichts zu tun. Die ist für mich ziemlich irrelevant. Ich bin auch schon von Journalisten bedroht worden, die meinten: "Wenn Sie nichts sagen, schreiben wir Sie nieder." Dann sage ich: "Bitte, schreiben Sie, ich sei der größte Trottel." Dadurch bekomme ich kein Mandat weniger. Die Leute kommen ja nicht zu mir, weil ich in der Zeitung stehe, sondern weil sie sehen, was ich tue und wie ich es tue. Mich interessieren Akt und Gesetz. Öffentlichkeit dient nie dem Mandanten, nur der Eitelkeit des Anwalts.

Wess: Also da widerspreche ich, das sehe ich durchaus differenzierter. Die Öffentlichkeitsarbeit kann auch für Strafverteidiger eine wichtige Rolle spielen.

Roland Kier hat die Verteidigung von Ex-Öbag-Chef Thomas Schmid im Frühsommer übernommen, als dieser Kronzeuge werden wollte
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STANDARD: Aber stört es manche Mandanten nicht, wenn sie sich gar nicht medial äußern können?

Kier: Die äußern sich ohnehin, aber doch nicht bei den Medien. Welcher Mandant hat je eine Einstellung seines Verfahrens bekommen, weil er mit den Medien gesprochen hat?

Wess: Ich würde da aber das Thema Unternehmen einwerfen. Bei der Telekom Austria war es wichtig, die Situation mit einer PR-Agentur zu erklären. Da ging es um Lizenzen und darum, sich vor Aktionären zu erklären.

STANDARD: Minister und Kanzler müssen sich wohl auch erklären, wenn sie Beschuldigte sind?

Wess: Ja, das erwartet sich die Öffentlichkeit; aber der Roland Kier würde wahrscheinlich sagen: Was die Öffentlichkeit erwartet ...

Kier: ... ist mir als Verteidiger egal. Wenn jemand sich medial äußern will, soll er es tun. Aber ich sitze da nicht daneben. Das ist für mich vergeudete Lebenszeit. Was ändert das im Verfahren?

STANDARD: Womöglich hat der Mandant auch noch Interessen abseits des Verfahrens?

Kier: Ich sage ja nicht, dass meine Sicht richtig ist, aber es ist die meine. Ich frage den Mandanten: "Sollen wir etwas sagen?" Die meisten sagen dann ohnehin Nein. Man gibt eine kurze Presseerklärung ab, sonst braucht man keine Interviews, keine Homestorys – man hat da ja alle möglichen Anfragen. Strafjustiz ist kein Entertainment, die Justiz wird damit geradezu verhunzt. Das tut der Demokratie und dem Rechtsstaat nicht gut.

STANDARD: Befürchten Sie nicht, dass die öffentliche Meinung in irgendeiner Art und Weise doch das Verfahren beeinflusst?

Kier: Wenn Medienberichte auf Richter einen Einfluss haben, ist die Welt ohnehin verloren, weil dann brauche ich gar kein Verfahren mehr führen. Dann sage ich dem Richter: Lesen Sie bitte die Zeitung und sagen Sie, was Sie davon halten.

STANDARD: Aber verfolgen Sie, was über Ihre Verfahren geschrieben wird?

Kier: Nein, null. Ich lese keine Zeitungen, mich interessiert das nicht. Für mich gibt es die Medienwelt nicht.

STANDARD: Sie meinen, in Bezug auf Ihre Causen?

Kier: Nein, überhaupt nicht. Ich konsumiere fast gar keine Medien, sondern nur Fachpublikationen wie die Österreichische Juristenzeitung. Ich schaue alle drei Tage, ob wir wem den Krieg erklärt haben. Sonst interessiert mich das eher nicht.

STANDARD: Sie sind doch ein politischer Mensch, ein Bürger?

Kier: Nein. Politik interessiert mich noch weniger. Ich möchte nur wissen, wenn ich auf die Straße gehe, ob da Panzer rollen. Das führt halt zu skurrilen Situationen, wenn Leute zu mir kommen und meinen: ‘Sie haben sicher gelesen, was bei mir passiert ist’, und ich sage: ‘Nein’.

Wess: Was ich aber durchaus sehe, ist, dass der Mandant nicht nur das strafrechtliche Verfahren hat, sondern auch eine Art Gerichtsverfahren am Schauplatz der Öffentlichkeit. Da ist die Frage, ob man das als Verteidiger begleiten kann, soll und will. Aber das darf natürlich nie der Selbstzweck des Anwalts sein. Bei Martin Pucher (Ex-Commerzialbank-Chef, Mandant von Wess, Anm.) erschien es zweckmäßig und es war der ausdrückliche Wunsch des Mandanten, dass man seine Situation und seine Verantwortung in der Öffentlichkeit darstellt.

STANDARD: Im Handbuch Strafverteidigung beschreiben Sie "Gespräche mit Opinion Leadern", die dann, ohne es auszuweisen, die öffentliche Meinung mit Gastkommentaren und Hintergrundgesprächen steuern. Ist das nicht eine Art Täuschung der Öffentlichkeit?

Wess: Ich sage nicht, dass man derartiges machen soll, aber ich stelle die gängigen Praktiken am Markt vor. Der Befund ist, dass es so etwas gibt, und zwar zuhauf.

STANDARD: Wird die Berichterstattung weniger, wenn man nichts sagt?

Kier: Letztens ruft mich ein Journalist an und fragt: "Wie stellen Sie sich vor, dass ich etwas schreibe, wenn Sie nichts sagen?" Ich habe ihm geantwortet, das sei ein Grundsatzfehler: "Ich stelle mir gar nicht vor, dass Sie etwas schreiben."

STANDARD: Wenn Ihr Mandant dann womöglich selbstständig Medienarbeit betreibt, kann es doch sein, dass er Ihre Strategie zusammenhaut?

Kier: Das ist aber dann sein Leben mit seinen eigenen Entscheidungen. Ich empfehle ihm das nicht, aber wenn er will, soll er rausgehen und sich verfahrenstechnisch "umbringen".

STANDARD: Wir wollten jetzt nach dem schweigsamen Auftritt von Thomas Schmid im U-Ausschuss fragen, aber die Enttäuschung der Öffentlichkeit wird völlig an Ihnen abgeperlt sein.

Kier: Für mich ist das kein Thema, für Sie ja schon. Ich habe in einer Presseaussendung ohnehin klargestellt, was Sache ist.

Wess: Die Vertretungstätigkeit im U-Ausschuss wird schon immer wichtiger, wir beleuchten das auch im Handbuch. Es ist lohnend, sich als Verteidiger bewusst zu machen, dass die Vorbereitung des Mandanten für einen U-Ausschuss schon eine andere ist als vor der Staatsanwaltschaft oder vor Gericht. Das sind drei verschiedene Instrumente, auf denen man auch als Verteidiger letztendlich spielen muss können.

Norbert Wess hat sich als Verteidiger von Ex-Novomatic-Chef Harald Neumann schon früh mit dem Casinos-Akt beschäftigt. Seit Herbst 2021 vertritt er auch Ex-Ministerin Sophie Karmasin.
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STANDARD: Und drei Honorarnoten.

Wess: Na ja, der Stundensatz ist immer der gleiche, aber klar: gute Verteidigungs- und Beratungsarbeit kostet seinen Preis.

STANDARD: Apropos Stundensatz – Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat zuletzt wieder thematisiert, dass er bei Ermittlungseinstellungen keinen Kostenersatz für das Anwaltshonorar und bei Freisprüchen nur geringen bekommt. Braucht es da eine Reform?

Kier: Das ist seit ewigen Zeiten eine Forderung der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger. Budgetär heißt es, das könne man sich nicht leisten. Aber es würde auch dazu führen, dass Staatsanwaltschaften womöglich gewisse Dinge, die sehr holprig sind, nicht anklagen.

Wess: Ich bin mit dem Thema bereits vor einigen Jahren zum Verfassungsgerichtshof gegangen, weil wir nach zwei sehr aufwändigen Verfahren, die mit Freispruch geendet haben, die tarifmäßigen Kosten geltend gemacht haben, die wir nicht bekommen haben. Das wird im Handbuch ausführlich beschrieben, es gab sogar eine mündliche Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof. Der hat aber letzten Endes gesagt, die österreichische Pauschalierung auf ein paar wenige Tausend Euro sei nicht verfassungswidrig. Die derzeitige Regelung ist also nicht verfassungswidrig, aber einzigartig schlecht in Europa. Und das Budget in Deutschland ist zB auch nicht explodiert, als man dort einen fairen Kostenersatz geschaffen hat.

STANDARD: Für Großverfahren braucht es ja vermutlich unzählige Arbeitsstunden. Allein der Casag-Akt hat mehr als 3500 Ordnungsnummern. Wie gut kennen Sie eigentlich einen Akt, lesen Sie alles?

Kier: Es kommt auf die Verteidigungsstrategie an. Im Standardfall des nicht-geständigen Mandanten kenne ich den Akt schon in jedem Detail. Aber tausend Ordnungsnummern bedeuten nicht tausend relevante Dokumente. Es reduziert sich auf einige Ordnungsnummern, etwa Zwischenberichte und Zeugeneinvernahmen.

STANDARD: Und wo muss man den Akt nicht so gut kennen?

Kier: Da, wo der Mandant von der ersten Sekunde an voll geständig ist. Der einfache Vorwurf, jemand habe ein Rad gestohlen, da braucht man sich dann bei einem Geständnis nicht mehr sehr vorbereiten.

STANDARD: Wie oft kommt das vor?

Kier: Bei mir 50:50.

Wess: Wirklich?

STANDARD: Bei Ihnen, Herr Wess?

Wess: 5:95. Ich habe das sehr selten. Ich bin auch nicht sehr gut darin, geständige Mandanten zu vertreten.

Kier: Aber man muss dazu sagen, dass ich versuche, eine realistische Strafverteidigung zu führen. Wenn jemand kommt und die fünfzig Argumente der Staatsanwaltschaft nicht erklären kann, dann empfehle ich schon, sich das noch einmal zu überlegen. Ich bin keiner, der die Leute zum Geständnis presst, aber man muss der Welt erklären können, warum Zeugen lügen oder Belastungen falsch sind.

STANDARD: Muss Ihr Mandant Ihnen die Wahrheit sagen? Wissen Sie, was wirklich war?

Kier: Überhaupt nicht. Der Mandant kann mir die Geschichte erzählen, die er will, und eine gewisse Zeit lang höre ich ihm auch zu. Dann erkläre ich ihm aber, dass das einmal seine Sicht ist, und frage ihn, was er zu den Aussagen der anderen oder zu den anderen Beweisen sagt. Wenn er das bei der dritten Besprechung immer noch nicht erklären kann, frage ich ganz gezielt, ob er jetzt das Problem sieht. Und die überwiegende Mehrheit versteht dann meinen Ansatz.

STANDARD: Aber fragen Sie, was die Wahrheit ist?

Kier: Nein. Für die Frage sinnvoller Verteidigung ist das keine Voraussetzung.

Wess: "Hand aufs Herz – wie war es?" – das habe ich ebenfalls noch nie gefragt.

Kier: In zahlreichen Fällen ist eh recht leicht ersichtlich, wie es wirklich war. Aber ich beutle niemandem und fordere jetzt die Wahrheit. Viele Verteidigungen konzentrieren sich ohnehin auf den rein juristischen Aspekt.

Wess: Das ist meines Erachtens auch der einzig richtige Zugang zu professioneller Strafverteidigung. Wie ich im Handbuch schreibe, habe ich als Anwalt den Eid abgelegt, jetzt kommt im Übrigen ein Gesetzestext, "einseitig und unumwunden die Interessen des Mandanten zu vertreten, solange ich das mit meinem Gewissen vereinbaren" kann. Staatsanwaltschaft und Gericht sind hingegen der Objektivität verpflichtet, ich als Verteidiger gerade nicht. Wenn mir jemand die Vorwürfe sinnvoll erklären und damit entkräften kann, komme ich gar nicht in die Verlegenheit, da nachzufragen. Dann ist es meine Berufspflicht, dass ich ihn oder sie in diese Richtung zu 100 Prozent und mit voller Kraft unterstütze.

Kier und Wess haben gemeinsam das Handbuch Strafverteidigung herausgegeben, darin finden sich unter anderem Beiträge von den Verteidigern Michael Rami, Peter Lewisch, Otto Dietrich, Johann Pauer, Vanessa McAllister, Alexia Stuefer, Richard Soyer und Manfred und Klaus Ainedter.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Der Mandant kommt ja oft am Beginn der Ermittlungen zu Ihnen. Wollen Sie da nicht wissen, welcher belastende Chat vielleicht später auftaucht?

Kier: Da bin ich Schmerzen gewöhnt.

STANDARD: Aber es gibt Anwälte, die ihren Mandanten sagen: "Wenn Sie mich anlügen, war's das."

Kier: In solchen Situationen sage ich zum Mandanten: "Schauen Sie, das geht sich nicht mehr aus." Und frage: "Stimmt dann Ihre Geschichte nicht, oder ist das irgendein Fehler?"

Wess: Ich habe das auch noch nie persönlich genommen. Ich hatte schon Fälle, da war ich hundertprozentig von der Version des Mandanten überzeugt. Einmal konnte sich ein Mandant quasi nicht freibeweisen, was auch nicht seine Aufgabe ist. Nur wurde klar, dass vorgeworfene Fehlbeträge immer nur dann entstanden, wenn er als Einziger im Unternehmen anwesend war. Und wenn er auf Urlaub war, hat es nie einen Fehlbetrag gegeben. Das hat man auf zwanzig Jahre analysiert, und letzten Endes war seine Version vollkommen unplausibel. Trotzdem habe ich ihm immer noch emotional geglaubt. Irgendwann später kam er dann und meinte, er müsse sich so bei mir entschuldigen, es tue ihm so leid – er war es doch. Und er wisse gar nicht, wie er das bei mir wiedergutmachen soll. Aber das muss er gar nicht. Er muss sich letztendlich mit seiner Verantwortung dem Gericht gegenüber erklären, aber sich nicht bei mir entschuldigen.

STANDARD: Diesen Abstand zum Mandanten muss man als Anwalt aber schon auch lernen?

Wess: Man fühlt sich nicht so, als ob man privat angelogen wird. Ich bin mit dem Mandanten nicht verheiratet.

Kier: Am Anfang habe ich viel mehr geglaubt. Jetzt sage ich: Die größte Hürde im Verfahren bin ich. Wenn ich es glaube, dann gewinnen wir sicher. (Renate Graber, Fabian Schmid, 21.11.2022)