Linz – Man kann der mittelalterlichen Braustadt Freistadt im unteren Mühlviertel einen gewissen Charme nicht absprechen. Die von Stadtmauern umgebene denkmalgeschützte Altstadt weiß mit kleinen Gassen, Erkern und Innenhöfen zu überzeugen. Mühlviertler Gemütlichkeit harmoniert mit urbanen Vorzügen einer Bezirksstadt.

Auf dem großen Hauptplatz herrscht an diesem sonnigen Morgen bereits ein reges Treiben. Gut gefüllt ist auch der Stammtisch im nahen Gasthaus. Gabriele Schweiger sieht ihren Moment gekommen und schreitet mit Anti-Atom-Broschüren und gelben Aufklebern in Richtung der launigen Pensionistenrunde. Doch zwischen Essigwurst und Frühstücksachterl ist offensichtlich wenig Platz für ein Plädoyer gegen Atomenergie.

Desinteressierter Stammtisch

Gabriele Schweiger hat in ihrer Funktion als Obfrau der "Freistädter Mütter gegen Atomgefahr" in den letzten zwei Jahrzehnten gelernt, mit Widerstand umzugehen. Ob man denn von den Ausbauplänen beim tschechischen Atommeiler Temelín gehört habe? Die Stammtischrunde hat davon gehört. Aber: "Hörts doch bitte mit dem Scheiß auf. In der Zeitung steht, die bauen Minireaktoren. Das wird nicht so schlimm."

Vor den geplanten "Minireaktoren" in Tschechien haben die Gäste im Freistädter Wirtshaus keine sonderliche Angst.
Foto: Werner Dedl

Doch was so bescheiden klingt, ist – zumindest auf dem Papier – eine entsprechend große Erweiterung der atomaren Liegenschaft nahe der oberösterreichischen Grenze. Im September haben Premierminister Petr Fiala und der südböhmische Kreishauptmann Martin Kuba die Gründung der Gesellschaft South Bohemian Nuclear Park verkündet. Demnach sollen auf dem Gelände rund um das AKW nicht nur zwei neue Kraftwerksblöcke entstehen, sondern auch ein Pilotprojekt für sogenannte Small Modular Reactors (SMR). Ebenso angedacht ist ein Atommüll-Endlager.

In den SMRs sehen manche die Zukunft der Atomwirtschaft. Dafür, was genau ein SMR ist, gibt es jedenfalls noch keine wirkliche Definition. Gemeint ist meist ein AKW mit einer Leistung von weniger als 300 Megawatt elektrisch (MWe). Zum Vergleich: Die Reaktoren in Dukovany haben etwa 500 MWe, was die Bezeichnung "Mini" wohl ordentlich relativiert.

Nukleare Blase

Groß ist jedenfalls die Aufregung unter den Atomgegnern auf oberösterreichischer Seite. "Es sind weltweit rund 50 Länder, die SMR-Projekte verfolgen. Es ist eine riesige Blase. Die wollen uns weismachen, dass das etwas Neues ist. Eigentlich blättert man in der Geschichte weit zurück, denn SMR-Konzepte gab es schon in 50er-Jahren. De facto laufen aktuell aber nur zwei SMRs auf der Welt – in Russland und China."

Es werde vonseiten der Atomlobby intensiv versucht, SMRs als etwas völlig Neues zu verkaufen: "Es wird bewusst verniedlicht. Die kleinen putzigen Mini-AKWs. Fast wie ein Lego-Baukasten."

Rund 50 Kilometer von der oberösterreichischen Grenze entfernt liegt das Kernkraftwerk im tschechischen Temelín.

Zumindest erlebt die einst so starke Anti-Atomkraft-Bewegung nach schwierigen Jahren, die vor allem von Querelen untereinander geprägt waren, einen spürbaren Aufwind. Schweiger: "Man dringt wieder mehr zu den Leuten durch." Natürlich könne man der Power nachweinen, die die Bewegung in den 2000er-Jahren bei den großen Grenzblockaden gehabt habe. "Wir waren unglaublich breit aufgestellt – aus allen gesellschaftlichen Schichten. Aber solche Protestbewegungen laufen nie linear. Und es wird wieder ein starker Protest möglich sein." Denn eines sei klar: "Ohne Aktionismus gibt‘s keine NGOs."

Von Ausbauplänen aus der Zeitung erfahren

Bereit zum Widerstand ist man vor allem auch in den grenznahen Gemeinden. Leopoldschlag liegt gerade einmal 50 Kilometer von Temelín entfernt. Passt die Wetterlage, sind von dem kleinen Mühlviertler Ort die Kühltürme zu sehen. "Es ist einfach traurig, dass wir von den aktuellen Ausbauplänen aus der Zeitung erfahren haben", ärgert sich Bürgermeisterin Anita Gstöttenmayr (ÖVP).

Man habe natürlich in der Gemeinde über die vielen Jahre mit Temelín leben gelernt: "Aber vielleicht auch immer mit den naiven Gedanken im Kopf, dass Temelín ein Auslaufmodell ist und irgendwann einmal abgeschaltet wird." Der überwiegende Teil in der Region sei jedenfalls klar gegen Temelín. "Wir sind sicher bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Wobei Grenzblockaden natürlich das letzte Mittel sein müssen." Denn wenn die Grenzen zu Tschechien dicht seien, funktionierte auch im Mühlviertel "nichts mehr". Gstöttenmayr: "Wir wollen nicht nur einfach laut hineinschreien – Österreich ist zu konstruktiven Gesprächen bereit."

Gewillt, die Nebel rund um den Temelín-Ausbau zu lichten: Stefan Kaineder (links), Dalibor Strasky und Gabriele Schweiger.
Foto: Werner Dedl

Tief hängt der Nebel an diesem späten Vormittag am südböhmischen Himmel. Gut 24 km nördlich von České Budějovice liegt die Ortschaft Temelín. Weniger bekannt für das Schloss Vysoký Hrádek oder die Feste Býšov als für das Atomkraftwerk. Mächtig ragen die Kühltürme in den Himmel. Dalibor Strasky kennt aber nicht nur den Blick von außen. Von 1985 bis 1989 war der studierte Atomtechniker im tschechischen AKW Dukovany für den Sekundärkreislauf verantwortlich, wechselte dann nach Temelín, wo er bis 1990 bei der Planung und den Vorbereitungen zur Inbetriebnahme führend mitwirkte.

Seitenwechsel des Atomtechnikers

Dann aber wechselte Strasky die Seite – weil er zu den Sicherheitsrisiken in Temelín nicht mehr schweigen habe können. Heute ist der 60-jährige Anti-Atom-Beauftragter des Landes Oberösterreich.

Der Blick von Dalibor Strasky schweift über ein rund 19 Hektar großes Maisfeld. Dort, wo heute die Reste der abgeernteten Pflanzen zu sehen sind, soll in unmittelbarer Nähe zum AKW das SMR-Pilotprojekt entstehen. "Das Problem ist, dass die tschechische Bevölkerung zu einem überwiegenden Teil pro Atomkraft eingestellt ist. Die Begeisterung ist enorm", erläutert Strasky.

Hinsichtlich der Realisierung bleibt der Experte aber dennoch skeptisch: "Die Atomlobby war zwar bis heute nicht imstande, die Fernwärmeleitung zwischen dem AKW Temelín und Budweis wie geplant fertigzustellen, sieht sich jedoch bereit, den Aufbau des neuen Blocks in Dukovany und gleichzeitig die SMR-Pilotanlage in Temelin erfolgreich zu realisieren."

Oberösterreichische Politik aufgeschreckt

Von politischer Seite ist man jedenfalls in Oberösterreich in höchster Alarmbereitschaft. "Diese Pläne für einen südböhmischen Atomversuchspark an unserer Grenze erhöhen die Gefahr für Oberösterreich", warnt Umweltlandesrat Stefan Kaineder (Grüne). Man werde sich vehement gegen "ein Kernkraftexperiment, das vor unserer Haustüre durchgeführt werden soll", stemmen. (Markus Rohrhofer, 21.11.2022)