Sobald der Baum in der Stadt ist, tritt umgehend die Gilde der Baumsatiriker in Aktion und haut ihn unbarmherzig in die Pfanne.

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Oh, du Unfröhliche! Seit vergangenem Samstag erstrahlt wieder eines der Lieblingsobjekte, an dem sich der kollektive wienerische Missmut wochenlang genussvoll reiben kann, im vollen Lichterglanz: der Weihnachtsbaum (auch: Christbaum) auf dem Rathausplatz. "Bam, Oida" hieß einst die Grußformel, mit der Angehörige der wienerischen Jugendbewegung der Krocha einander willkommen hießen. Das war Ende der Nullerjahre, die Krocha und ihr Bam sind längst in Vergessenheit geraten.

Umso lebendiger präsentiert sich der Brauch, der Wiener Bevölkerung, den Touristen und sonstigen Durchreisenden alle Jahre wieder hartnäckig den saisonalen Bam aufzustellen. Angeliefert wird er seit 1959 aus den Bundesländern beziehungsweise Südtirol, 2021 kam er aus dem Burgenland, heuer aus der Steiermark. Es ist eine 28-Meter-Fichte, die in ihrem 130. Lebensjahr gefällt und nach Wien transferiert wurde, alles Informationen, die Weihnachtsbaumfanatikern sicher im Gedächtnis haften bleiben werden. Deklariert ist die Fichte als "Geschenk", daher unterliegt sie nicht dem Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.

Was die Hierarchie der Wiener Sehenswürdigkeiten angeht, so reicht der Baum zwar nicht an Schönbrunn und Riesenrad heran, aber mit dem Stock im Eisen oder dem Zahnwehherrgott kann er es aufnehmen. Anders als diese beeindruckt der Weihnachtsbaum allerdings mit einer beschränkten Anwesenheit im Stadtbild. Jetzt ragt er auf dem Rathausplatz in die Höhe, und Wolfgang Sobotka kann ihm von den Zinnen des Parlaments vermutlich direkt in die Krone schauen, wenn er mit seinem Glas Wein flanieren geht. Ein privilegierter Blick, um den man den Nationalratspräsidenten beneiden könnte.

Baum mit Haltung

Wie schaut er heuer aus, der Baum? Die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, bei der er womöglich ressortiert, schreibt in einer Aussendung, "gerade gewachsen" sei er, "quasi ein Zeichen von Haltung", das heißt, ein Pluspunkt für die Steirer. Kaup-Hasler fügt hinzu: "Der Baum ist auch ein Bekenntnis eines Bundeslands zu Wien." Dieses Bekenntnis ist gewiss würdig und recht und zur Linderung föderalistischer Spannungen vielleicht sogar nötig.

Gerade ein Weihnachtsbaum könnte das optimale Objekt sein, um ein Bundesland gegen ein anderes aufzuhetzen, wie das ja in Österreich auch auf höchster Regierungsebene betrieben wird. Man stelle sich vor, dass Vorarlberg, wie zum Hohn, die grindigste Fichte, die sich im Bregenzerwald auftreiben ließ, gen Wien entsenden würde: Da wäre der innerösterreichische Teufel ebenso sehr los wie anno 1964, als erboste Vorarlberger gegen das Vorhaben der Bundesregierung meuterten, ein Bodenseeschiff auf den Namen des Sozis Karl Renner zu taufen.

Ist der Baum erst in der Stadt, tritt alle Jahre wieder umgehend die informelle Gilde der Baumsatiriker in Aktion und lässt keinen guten Zweig an dem Geschenk aus der Provinz. Der Baum wird unbarmherzig in die Pfanne gehauen. Man nennt diesen lokalen Brauch "Sudern", wobei das Weihnachtsbaumsudern ein Sudern sein dürfte, das sich selbst nicht völlig ernst nimmt und sich so dem Schmäh annähert.

Geschmäht wird der Baum vor allem in den sozialen Netzwerken, er ist zu zerzaust, zu klein, überflüssig, ökologisch dubios, "wenigstens transparenter als die Wiener Stadtregierung" (ein vergiftetes Lob), zu schütter, zu asymmetrisch, zu dürr (Kunststück, wenn im Spätherbst konstant Frühsommertemperatur herrscht). Dabei haben die Heinzelmännchen vom Magistrat eh ihr Bestes gegeben, um den Baum mit kosmetischen Tricks auf Vordermann zu bringen und ihm zu geben, was Mutter Natur verweigert hat.

Eine kleine innerredaktionelle Umfrage hat erbracht, dass eine knappe Mehrheit den heurigen Baum dem burgenländischen von 2021 vorzieht. Aber über Geschmack lässt sich streiten, daher empfiehlt sich zur persönlichen Urteilsbildung ein Lokalaugenschein. Wenn einem der Baum gefällt, passt die Sache. Wenn nicht, ist es auch wurscht. Schließlich ist er im Jänner ja eh wieder weg. (Christoph Winder, 21.11.2022)