Starb 89-Jährig in der Schweiz: Jean-Marie Straub

Foto: Viennale

Von Bertolt Brecht gibt es einen berühmten Versuch, die Antike dem Klassizismus zu entwinden: "Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar". Da geht es um die materiellen Grundlagen des römischen Imperiums, um Sklavenhandel und generell um einen Handel, der zunehmend den altmodischen Krieg mit dem Schwert ersetzt. 1972 wurde Brechts Text verfilmt, von dem wahrscheinlich berühmtesten Paar des linken Kinos: "Geschichtsunterricht" von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Eine Exkursion durch die Straßen des damaligen Rom, zugleich eine Recherche auf den Spuren einer vor 2000 Jahren schon einmal probeweise imperialistisch entfesselten Globalisierung.

Am Sonntag ist Jean-Marie Straub im Alter von 89 Jahren in der Schweiz gestorben. Über Jahrzehnte kannte man ihn nur in einer Bindestrich-Existenz mit seiner Frau und Arbeitspartnerin Danièle Huillet, die 2006 starb: Straub-Huillet war im europäischen Kino des 20. Jahrhunderts ein meist ehrfürchtig, manchmal auch höhnisch ausgesprochenes Kürzel für einen Anspruch an künstlerisches Arbeiten, der in den subventionierten Wohlstandskinematographien Frankreichs und Deutschland am Ausgang ihrer jeweiligen Wirtschaftswunder wie Fundamentalismus wirken mochte. Ihre Lektüren und Filmvorlagen bilden einen eigenen Kanon (von Kafka bis Elio Vittorini, von Corneille bis Hölderlin), ihre Ideologie waren Texte, für die sie mit dem Mitteln des Kinos strikt materialistisch einen Resonanzraum zu schaffen versuchten.

In Alexandrinern

Man nehme etwa den Film "Othon" aus dem Jahr 1970, der genaue Titel lautet "Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen" oder "Vielleicht eines Tages wird Rom sich erlauben zu wählen". Man darf sich diesen Titel nicht, wie es eine geschmäcklerische Rezeption tun würde, auf der Zunge zergehen lassen, man muss ihn einfangen, wie er sich den Brustkörben von präzise im alexandrinischen Versmaß deklamierenden Schauspielern entringt, die gegen den römischen Verkehrslärm anspielen. Und das auf Grundlage eines Texts über eine Sukzessionsepisode im alten Rom, die bei Straub-Huillet in einer Volte der Form zu einem Exempel für oligarchische Machtverhältnisse machen, denen sie eine von Corneille erfundene Frauenfigur gleichsam als Volk entgegenhalten. Straub-Huillet wurden oft als elitär wahrgenommen, als Verfechter einer klassischen Kultur, von der sie aber darauf bestanden, dass diese (und nicht "Der Alte" am Freitagabend im Fernsehen) das Maß der Dinge gerade auch für die einfachen Menschen sein sollte.

Zu Bach erarbeiteten sie sich einen Zugang über dessen Frau, der Film "Chronik der Anna Magdalena Bach" (1968) ist zugleich so etwas wie eine Analyse eines musikalischen Pfarrhauses (in dem die Frau nicht unter ihrem Wert geschlagen werden darf) wie auch eine Parteinahme für die historische Aufführungspraxis von Gustav Leonhardt, der Bach spielte, wie Nikolaus Harnoncourt, der dirigierte.

Frankreich, Deutschland, Italien

Zwischen Frankreich (Straub stammte aus Metz, Huillet aus Paris), Deutschland (wohin sie in den 60er Jahren emigrierten, unter anderem wegen des Algerienkriegs) und Italien, wo sie in Rom lange Zeit eine nicht nur geistige Heimat fanden, arbeiteten Straub und Huillet an einem Kino, das auch noch lange nach den 1945 überwundenen Faschismen im Zeichen einer unverbrüchlichen Résistance stand. In Sizilien, auf den Abhängen des Ätnas, fanden sie auch so etwas wie eine geographische, klimatische Grundlage für ihren Materialismus, der marxistisch geprägt war, immer aber auch darauf beruhte, wie Licht auf die Filmemulsion traf und sich der Ton in den Mikrophonen verfing, die dem Medium Film zu seiner Leiblichkeit verhalfen. In einem Dokumentarfilm von Pedro Costa für die Reihe Cinéastes de notre temps kann man sehr schön sehen, wie Straub und Huillet ihre Filme in einem ständigen Dialog am Schneidetisch weiterwachsen ließen, obwohl in ihrem Kino alles Entscheidende da schon getan war, denn die Wahrheit war bei ihnen immer der Moment vor der Kamera.

Straub gab dabei immer den proletarischen Intellektuellen, zur Zigarre und einem starken Getränk gab er in seinem zeitlebens stark französisch klingenden Deutsch so etwas wie einen Jean Gabin des linken Kinos. Nach dem Tod von Danièle Huillet fand er in der Produzentin Barbara Ulrich eine neue Partnerin, seine späten kurzen Filme (zum Beispiel nach Kafkas "Schakale und Araber") aber signierte er allein, alles andere wäre ein Akt der Untreue gegenüber einer Liebe gewesen, die im Kino ihren Inhalt und ihre Form fand: Straub-Huillet, gestorben 2006 und 2022. (Bert Rebhandl, 20.11.2022)