Dieser Liederabend mit Orchester, aber ohne im Wiener Volkstheater leibhaftig anwesender Sänger und Sängerinnen, hat eine Geschichte, die ins Beethoven-Jahr zurückreicht: 2020 sollte Heiner Goebbels’ von der Dimension her an Beethovens Neunte oder an eine Mahler-Symphonie erinnerndes Werk uraufgeführt werden: A House of Call. My Imaginary Notebook musste jedoch Corona-bedingt verschoben werden.
Am Samstag, bei der Aufführung im Rahmen von Wien Modern, ist allerdings kein Verlust an Relevanz und Stringenz zu erkennen. Für das Musikfest Berlin und das Ensemble Modern geschrieben, wirkt der vierteilige Zyklus zum Schluss hin zwar etwas gar ausgedehnt. Es dominiert der repetitive Minimalismus. Durch seinen abstrakt und stildivers angelegten Orchesterpart (und die vokalen Übermalungen) entstand aber in Summe ein vielschichtiger, zeitlos wirkender musikalischer Assoziationsraum.
Der Sammler
Der gesungene und gesprochene Part ist Ergebnis der Sammlertätigkeit von Goebbels, der seine nahe und andere ferne Welten dokumentierend bereist hat. Zwischen Heiner Müller (Immer den gleichen Stein) und What When Words Gone von Samuel Beckett inszeniert Goebbels interessante Stil- und Kulturkontakte mit durchaus auch politisch erhellenden Momenten.
Wenn die Stimmen von Nachfahren der Nama und Herero zu hören sind, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts Völkermordopfer des deutschen Kolonialismus wurden, ist ein aufklärerisches Moment präsent, ohne dass der Eindruck entsteht, "nur" einer historisch-kritischen Vorlesung beizuwohnen.
Europäische Kirchenmusik
Die Grundidee, das großartige Ensemble Modern, das von Vimbayi Kaziboni prägnant dirigiert wird, auf menschliche Stimmen reagieren zu lassen, zeitigte immens dichte Momente, auch wenn die Methode nicht neu ist: Im Gospel wird es "Call und Response"-Prinzip genannt. In der europäischen Kirchenmusik trifft man den Begriff "Responsorium", wenn das Kollektiv auf einen Vorsänger reagiert.
A House of Call, auch mit akustischen Stadtimpressionen und sonstigen Geräuschelementen gewürzt, ist allerdings vielschichtig: Stellt sich das Ensemble zu Beginn ruppig gegen eine Chanson-Kadenz, nimmt es an anderer Stelle den Gestus einer Stimme auf, deren Intonation außerhalb "unseres" temperierten Systems angesiedelt ist.
Mutter rezitiert
Starker Moment: Mit Glissandobewegungen parallel zum Rhythmus der Stimme entsteht eine packende Verschmelzung, ohne dass der Eindruck von Vereinnahmung des Originals entsteht. Die von Goebbels gefundene Stimme scheint zu einem neuen orchestralen Ausdruck inspiriert zu haben.
Interessant auch das Private am Werk, da es nicht konkret-aufdringlich präsentiert wird. Wenn eine weibliche Stimme eindringlich "Schläft ein Lied in allen Dingen" haucht und damit Eichendorffs Gedicht Wünschelrute rezitiert, hört man Margret Goebbels, die Mutter des Komponisten. (Ljubiša Tošic, 21.11.2022)