Wenn Karoli Lalaur von der Tür seiner Hütte auf die Landschaft rund um das Dorf Suyian blickt, dann sieht er vor allem Staub. Eine staubige Ebene, die nur von dürren Grasbüscheln und wenigen Akazienbäumen besiedelt ist. Hier, im Norden Kenias, gab es früher Grasflächen und Flüsse, die die Wasserstellen füllten. Ziege und Kühe grasten – das einzige Vermögen der Dorfbewohner. Nun mischen sich auch Kamelherden darunter, denn die "Wüstenschiffe" sind besser an die Dürre angepasst, die die Gegend hat austrocknen lassen. Die Hirten sind gezwungen, ihre Tiere über immer längere Distanzen zu treiben, und geraten dabei oftmals tief in verfeindetes Stammesgebiet.

In Suyian zählen die rund 200 Bewohner zum Volk der Samburu. Sie sind das letzte Dorf vor dem Stammesgebiet der Turkana. Die beiden Bevölkerungsgruppen sind seit langem verfeindet, liefern sich seit Jahren blutige Kämpfe, die vor allem junge Burschen das Leben kosten, wie Lalaur erzählt. Er ist der Chief in Suyian, der Dorfvorsteher: "Regelmäßig sterben Menschen. Erst letzte Woche wurde jemand beim Sammeln von Aloe vera erschossen." Die Trockenheit würde alles schlimmer machen, ist sich Lalaur sicher. Sie treibt die Gewaltspirale weiter an, aus der die Regierung in Nairobi mit Friedensgesprächen einen Ausweg sucht. Unterstützt werden die Bemühungen auch durch lokale Initiativen und ein Schulprojekt, in das Spendengelder aus Österreich fließen.

Mit dem Horn werden die Krieger alarmiert, zeigt Karoli Lalaur.
Foto: Bianca Blei

Drei Polizisten

Was im Fall eines Angriffs auf das Dorf geschieht? Chief Lalaur greift in die Äste eines Akazienbaums und holt ein Horn hervor. Damit werden die lokalen Samburukämpfer alarmiert, wenn eine Attacke der Turkana droht. Sie würden sich in Gruppen von bis zu 100 Kämpfern nähern und versuchen, das Vieh zu stehlen, erzählt er. Frauen, Kinder und Ältere würden sich dann verstecken, die jungen Männer – Moran genannt – mit ihren Speeren, Stöcken und auch Kalaschnikows losziehen.

Wo die Polizei bleibt? Auf die könne man nicht zählen, sagt Lalaur und zeigt auf die Polizeistation am Ende der Straße. Dort säßen nur drei Polizisten. "Wir brauchen aber mindestens 50, 60 Soldaten oder Polizisten", sagt der Chief. Nairobi hätte Hilfe versprochen. Aber wann die kommt, ist unklar.

Suyian ist das letzte Dorf vor Turkana-Gebiet.
Foto: Bianca Blei

Billige Kugeln

Fest steht, dass nicht nur die Dürre ihren Anteil daran hat, dass die Kämpfe immer brutaler werden und mehr Opfer fordern: Seit den 1990er-Jahren strömen Waffen aus den an Kenia grenzenden Konfliktgebieten in die Stammesregionen. Aus Äthiopien, dem Südsudan und Somalia gelangen die Kalaschnikows in die Hände junger Männer, teilweise noch nicht einmal Teenager. Zwischen 30.000 und 40.000 kenianische Schilling (240 bis 320 Euro) kostet ein Gewehr. Ein Vermögen für die Menschen vor Ort – aber Munition ist vergleichsweise billig. Ein Magazin kostet umgerechnet nicht einmal einen Euro.

Fährt man mit dem Jeep etwa zwanzig Minuten tiefer in das Stammesgebiet der Samburu, erreicht man den Ort Barsaloi. Dort finden sich zwischen den traditionellen Hütten auch kleine Lebensmittelgeschäfte und eine Bar – deutlich mehr Infrastruktur als in Suyian. Doch die Traditionen werden ebenso hochgehalten wie in den kleineren Dorfgemeinschaften.

Tradition der Moran

Und die besagen, dass Burschen mit ihrer Beschneidung zu Männern werden und anschließend eine gewisse Zeit als Moran der Dorfgemeinschaft dienen müssen. Zwölf bis 15 Jahre sind sie dann Kämpfende. Anschließend dürfen sie heiraten und steigen in der Dorfhierarchie zu Älteren auf. Es wird immer eine Gruppe gleichzeitig – und kurz vor Ablauf der Zeit der vorhergegangenen – beschnitten und zu Moran. Die Familienväter entscheiden, wann ihre Söhne reif sind. Das kann mit 15 Jahren, 20 Jahren, aber auch bereits mit acht Jahren sein.

Die Moran beschützen auch die Hirtenkinder und deren Herden.
Foto: Bianca Blei

Taschengeld durch Gesang

Die Burschen und Jugendlichen leben schließlich gemeinsam außerhalb des Dorfes – sie müssen ihre Familien nach der Beschneidung verlassen – und dürfen während ihrer Moran-Jahre nicht vor Frauen essen. Ihre Mitkämpfer werden zur Familie, sie gelten im Dorf als eine "Generation". Das tatsächliche Alter der Burschen hat deshalb wenig Wert. Egal wie alt die Buben in Wirklichkeit sind, sie fühlen sich in der Gruppe alle gleich alt. Ein Taschengeld verdienen sich viele von ihnen, indem sie traditionelle Lieder singen und auf Dorffesten und zu feierlichen Anlässen auftreten.

Daniel ist ein Moran. Sein Vater erlaubt ihm aber, in die Schule zu gehen.
Foto: Bianca Blei

In die Schule können sie – wenn sie es denn zuvor waren – nicht mehr gehen. Der 15-jährige Daniel ist in Barsaloi eine Ausnahme. Zwar wurde er wie alle seiner Generation beschnitten, doch ließ ihn sein Vater weiterhin am Unterricht teilnehmen. Zuvor hatte er noch als Hirtenjunge die Abendschule besucht, die von lokalen Freiwilligen organisiert und von der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar, unterstützt wird. Er schaffte es als einer der wenigen in die staatliche Grundschule – und ist schlussendlich nur einer von fünf Moran, der weiterhin Bildung erhält. Daniel ist stolz auf seine Leistung und erzählt, dass er Arzt werden will.

Die kämpfenden Moran aus Barsaloi befinden sich am Ufer des ausgetrockneten Flussbetts und grillen eine Ziege im Gebüsch. Die Gruppe von Burschen verwendet zum Zerteilen des Tieres große Jagdmesser – Stöcke lehnen an den Bäumen, und eine Kalaschnikow wird stolz durch die Runde gereicht.

Die Krieger von Barsaloi bleiben in der Gruppe.
Foto: Bianca Blei

Kampf gegen Tiere und Feinde

Sie bleiben zusammen, denn das sei "lebensnotwendig", sagen die Burschen, während sie auf ihrer Ziege kauen. Wofür sie eine Kalaschnikow brauchen? Um die wilden Tier vom Dorf fernzuhalten, ist die erste Antwort aus der Runde. Hyänen, Elefanten und Löwen seien eine große Gefahr.

Nach kurzer Nachfrage kommen die Moran aber auch auf den anderen Grund zu sprechen: den Kampf gegen die anderen Stämme. Mit dem Gewehr hätten sie die "Macht, jene Tiere zurückzuholen, die gestohlen wurden", sagt einer der Krieger. Dabei kommt es natürlich auch vor, dass einer von ihnen verwundet wird. Die kleine medizinische Station im Dorf ist notorisch schlecht ausgestattet, das Ambulanzfahrzeug ist so gut wie nie getankt.

Als Moran muss man sich selbst um Nahrung kümmern – die Familie muss man verlassen.
Foto: Bianca Blei

Priester Guillermo Alvarez von der Yarumal-Mission im Ort ist oft der Einzige, der die Verletzten noch in ein Krankenhaus fahren kann. Nicht immer hilft das. Alvarez erzählt von einem 15-Jährigen, den er mit einer Schusswunde im Oberschenkel in die Klinik gebracht hatte. Sie schafften die holprige Fahrt, die mehrere Stunden dauerte – nur um zu erfahren, dass es in der medizinischen Einrichtung kein Blut gab. Und keinen Strom, um rasch gespendetes Blut zu injizieren. "Ich konnte nur noch bei ihm bleiben, bis er gestorben war", erinnert sich der Priester.

Bildung für die Moran

Dreieinhalb Stunden Autofahrt weiter nördlich – südlich des Turkana-Sees – sind die Geschichten die gleichen. Der Feind heißt anders. In Tuum, im Gebiet der Turkana, werden die Moran seit langem darauf getrimmt, dass die Gegner aus Samburu stammen und bekämpft werden müssen. An vier Tagen in der Woche sollen aber auch hier die jungen Männer und Burschen grundlegende Bildung erhalten – und verstehen, dass der ständig andauernde Krieg beiden Seiten nichts nützt. Der 18-jährige Jonathan ist einer der Moran, die die spezielle Abendschule auf dem Gebiet der Yarumal-Mission besuchen, die auch mit DKA-Spendengeldern aus Österreich unterstützt wird. Seine Motivation? "Bevor ich mich umbringen lasse, komme ich lieber in den Unterricht."

In der Abendschule wird den Burschen Bildung und Frieden nähergebracht.
Foto: Bianca Blei

Jonathan berichtet von einer besseren Zukunft, die er im Gegensatz zur Generation vor ihm habe: "Ich denke, dass es Menschen besser geht, die lesen und schreiben können." Denn vor der Dürre werden alle gleich: Die Tierherden der Samburu und der Turkana verenden und somit die traditionelle Lebensgrundlage. Frieden und Bildung ebnen einen Weg in die Zukunft. (Bianca Blei aus Samburu, 27.12.2022)