Im Gastblog fragt Nico Langmann anhand einer kritischen Analyse der Entwicklungen des Rollstuhltennis, inwiefern dieser Sport noch sein Ziel erfüllt.

"Wozu gibt’s das eigentlich?" Diese Frage scheint zunächst unangebracht und überflüssig. Man muss nicht mehr die Existenzberechtigung einer Behindertensportart erklären, sie ist gegeben. Und das ist gut so. Dennoch schadet es nicht, die Frage von Zeit zu Zeit genauer zu beleuchten. Also: Warum gibt es die Sportart überhaupt?

Rollstuhltennis ist wohl die anerkannteste Behindertensportart – aber wie fair ist es?
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Die Entstehungsgeschichte teilt sich Rollstuhltennis mit allen anderen Behindertensportarten: Anfangs ging es nur um Beschäftigung und Bewegung von Menschen mit Behinderung. In den 1970er-Jahren wurde der Sport in den USA in Rehabilitationszentren erdacht, um nach Unfällen querschnittsgelähmten Personen eine Möglichkeit zu bieten, Sport zu treiben. Das Ziel war, mit einem Rollstuhl umgehen zu lernen und sich fit zu halten. Und um ein Stück weit Hobbys zu betreiben, die sie auch vor ihrem Unfall gemacht haben. Ganz nüchtern betrachtet, war die Erfindung von Rollstuhltennis nichts anderes als eine Rehabilitationsmaßnahme.

Langsam nimmt aber die paralympische Bewegung Fahrt auf, und Rollstuhltennis ist mit dabei. Zum ersten Mal wird ein Bewerb bei den Spielen 1988 in Seoul als "Demo" ausgetragen, seit Barcelona 1992 ist es ein vollwertiges Mitglied der Spiele. Und nach dem großen Erfolg der Spiele 2000 in Sydney klopfen auch die Grand-Slam-Turniere an, auch sie wollen eigene Bewerbe austragen. Somit ist Rollstuhltennis bis heute die einzige Behindertensportart, die selbstverständlich Teil der großen Sportbühne der "nichtbehinderten" Sportart ist. Beim Schwimmen gab es noch nie eine gemeinsame WM oder EM, genauso wenig bei der Leichtathletik, sogar beim allseits beliebten Basketball träumt man nur von gemeinsamen Events. Nicht so im Tennis. Hier gilt: Wo auch immer eine Bühne für den Sport geboten wird, so ist Rollstuhltennis nicht weit weg.

Fairness im Rollstuhltennis

Dadurch bekommen die Akteure des Rollstuhltennis vor allem zwei Boni: Aufmerksamkeit und Geld. Der Triumph in Flushing Meadows auf Rädern ist in diesem Jahr satte 60.000 Euro wert gewesen. Anreiz genug für viele, um sein oder ihr Glück auf Rädern zu versuchen. Jetzt kommen wir nämlich zu der Crux von der ganzen Geschichte: Mittlerweile ist Rollstuhltennis kaum noch eine Behindertensportart. In den Top 30 sind vielleicht zehn Prozent im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen, der Rest hat, wenn, dann marginale Einschränkungen. Bei Turnieren wird der Sportrollstuhl im Stehen auf den Platz geschoben, erst zum Spielen setzt man sich hinein.

Warum ist das aber unfair, es sitzen doch ohnehin trotzdem alle beim Spielen im Rollstuhl? Das stimmt, aber eine Person, die ihre gesamte Muskulatur für Aufschlag, Vorhand und Co verwenden kann, wird bei gleichem Aufwand immer besser sein als jemand wie ich, der von dem Bauchnabel abwärts gelähmt ist. Dadurch kann ich die Rotation des Oberkörpers zum Beispiel nur sehr eingeschränkt für meine Schläge verwenden sowie ich meinen Oberkörper nicht nach vorne oder zur Seite kippen kann – ich kann ihn in Schräglage nicht stabilisieren. Für mich ist Tennisspielen immer mit Fast-aus-dem-Rollstuhl-fallen-und-wieder-auffangen verbunden.

Wen der Sport fördert

Warum ist das aber ein Problem? Ich habe nun einmal nicht die Voraussetzung für Rollstuhltennis, könnte man sagen. Jemand, der 1,69 Meter groß ist, ist auch physisch benachteiligt im Vergleich zu jemandem, der 1,90 Meter groß ist. Klingt falsch? Ist aber genau das, was mir ebenjene "Rollstuhl"-Tennisspieler sagen, wenn ich eine fairere Klassifizierung fordere. Denn jetzt kommen wir zum zweiten großen Problem: der Aufmerksamkeit. Rollstuhltennis macht nämlich mit der Aufmerksamkeit mehr, als "nur" die Faszination von Sportfans zu bedienen. Es bringt Menschen ins gesellschaftliche Rampenlicht, die es normalerweise nicht sind. Es zeigt Menschen mit Einschränkungen und macht das Thema angreifbar für eine Großzahl an Menschen.

Nur was passiert, wenn den Menschen mit Behinderung die Behindertensportart weggenommen wird? Wenn sich nur mehr diejenigen durchsetzen, die die meisten physischen Fähigkeiten haben, die am wenigsten behindert sind? Dann erfüllt der Behindertensport gar keinen Zweck mehr. Dann ist weder dem frisch verletzten Menschen im Krankenhaus geholfen, der denken könnte "Das will ich auch mal machen", noch öffnet es die Augen von Menschen im Publikum, die Personen mit Behinderung solche Leistungen nicht mehr zugetraut hätten. Und dann kann man getrost fragen: Rollstuhltennis – wozu gibt’s das eigentlich? (Nico Langmann, 23.11.2022)