Bernd und Claudia Mühlbacher sowie Karin Riebenbauer (v. li.) kämpfen als betroffene Eltern und Initiatorinnen bzw. Initiator einer Bürgerinitiative für einen Rechtsanspruch auf mehr Schuljahre auch für Kinder mit kognitiven und anderen Beeinträchtigungen sowie Entwicklungsverzögerungen.

Foto: Marcel Köhler

Was für die meisten Kinder in der Regel kein Thema ist, nämlich – wenn sie das nach den neun Pflichtschuljahren möchten – bis zu zwölf oder – wenn sie in eine fünfjährige Schule der Sekundarstufe 2 wollen – auch noch mehr Jahre eine Schule besuchen zu dürfen, wird für Familien mit Kindern mit Behinderung oft zu einem Riesenproblem. Dann nämlich, wenn ihnen nach längstens zehn Jahren (zum Beispiel ein Vorschuljahr eingerechnet) gesagt wird: Für Ihr Kind gibt es keinen Platz mehr in der Schule.

Rechtlich ist es so, dass ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), also etwa mit kognitiver Beeinträchtigung, Trisomie 21, Autismus oder anderen Entwicklungsverzögerungen und weniger bekannten Diagnosen, die Zustimmung des Schulerhalters und die Genehmigung der Schulbehörde braucht. Was aber oft verweigert wird, "obwohl diese weiteren Jahre gerade für Kinder mit Behinderung einen wichtigen Einfluss auf ihre kognitive Entwicklung und Reife haben", heißt es dazu im Text einer Petition, die am Montagnachmittag im Parlament übergeben wurde: "Weitere Schuljahre erhöhen außerdem die Chancen auf einen Job am ersten Arbeitsmarkt wesentlich. Es ist also nicht nachvollziehbar, dass Kinder mit Behinderung kein Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr haben, Kinder ohne Behinderung jedoch schon – denn das ist eine Ungleichbehandlung und entspricht nicht den Richtlinien und deren Umsetzung, zu denen sich Österreich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits 2008 verpflichtet hat."

Wenn Familie an ihre Grenzen gebracht werden

Für die betroffenen Familien heißt es dann, entweder eine teure Privatschule finanzieren, wenn möglich, oder eine Tageswerkstätte suchen, die dann auch oft zu Mittag schließt, und "teilweise stehen die Familien am Rande der Existenz, weil oft von einem Monat auf den anderen ein Elternteil zu Hause bleiben muss. Ablehnungen für ein weiteres Schuljahr kommen oft erst im Juni", schildert Karin Riebenbauer, eine der Initiatorinnen der überparteilichen Initiative hinter der Petition für ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit Behinderungen im STANDARD-Gespräch. Außerdem verlieren die betroffenen Jugendlichen damit auch ihr gewohntes soziales Umfeld mit anderen Schülerinnen und Schülern, die sehr wohl weiter miteinander lernen dürfen.

Dabei sei die "Rolle als Bittsteller" für viele Eltern eine zusätzliche "belastende Hürde", sagt Riebenbauer. Auch da wird der österreichische Föderalismus schlagend. Denn in einigen Bundesländern würden die freiwilligen zusätzlichen Schuljahre eigentlich immer genehmigt, erzählt die Aktivistin, wohingegen es etwa in Wien mit Verweis auf zu wenige Schulplätze und Personal in der Regel eine Ablehnung gebe.

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DER STANDARD

Laut den aktuellsten verfügbaren Daten haben im Schuljahr 2020/21 rund 800 Schülerinnen und Schüler ein freiwilliges elftes und weitere knapp 300 ein freiwilliges zwölftes Schuljahr besucht, zeigt eine Anfragebeantwortung des Bildungsministeriums. Im selben Jahr wurden knapp 300 Kinder mit SPF später als gesetzlich vorgesehen eingeschult.

Ziel ist ein möglichst selbstbestimmtes Leben

Riebenbauer, eine Unternehmerin, kämpft seit 2017 für das Recht auf Bildung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Das tut sie im Vorstand des Elternvereins der inklusiven Hans Radl Schule, aber auch als Neos-Bezirksrätin in Wien-Währing. Sie und ihr Mann sind Eltern des 13-jährigen Anton, der mit einer Behinderung geboren wurde, sowie einer jüngeren Tochter.

Gemeinsam mit der Juristin Claudia Mühlbacher und deren Mann Bernd, die als Eltern eines Sohnes mit Down-Syndrom (Julian, der ebenfalls noch eine Schwester hat) das 3x21- Zentrum zur Förderung und Begleitung von Kindern mit Trisomie 21 gegründet haben, das von der Juristin auch geleitet wird, erhöht die Elterninitiative jetzt den Druck auf die Politik. Das Ziel sei "ein möglichst selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung", erklären Claudia und Bernd Mühlbacher ihre Motivation.

Am Montagnachmittag hat die Aktivistengruppe mehr als 35.000 Unterschriften im Parlament übergeben. Sie alle fordern ein Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit Behinderung. Demnächst wird die Petition auch auf der Homepage des Parlaments abrufbar sein.

Konkret fordert die Bürgerinitiative folgende Maßnahmen, um auch Kindern mit Behinderung ein umfassendes Recht auf Schule zu ermöglichen:

  • Spätere Einschulung erlauben: Kinder mit einer Behinderung, die eine Entwicklungsverzögerung mit sich bringt, etwa Trisomie 21, sollen bis zu zwei Jahre später eingeschult werden. Der Beginn der Berechnung der Schuljahre würde damit nach hinten verschoben, und die Kinder bekämen die Chance, diese wichtige Entwicklungsphase in der Schule durchlaufen zu können.
  • Rechtsanspruch auf ein elftes und zwölftes Schuljahr Das Schulunterrichtsgesetz soll so geändert werden, dass dieses Recht für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesetzlich klar definiert ist.
  • Inklusion in der Sekundarstufe 2 Damit die Forderung nach zwei weiteren Schuljahren auch gewährleistet werden kann, seien "inklusive Settings oder andere sonderpädagogische Angebote in der Sekundarstufe 2 einzurichten – etwa in berufsbildenden mittleren Schulen wie Handelsschulen und wirtschaftlichen, hauswirtschaftlichen, technischen und landwirtschaftlichen Fachschulen".
  • Stellenpläne aufstocken Inklusion braucht natürlich ausgebildetes Fachpersonal, um die betroffenen Schülerinnen und Schüler angemessen betreuen und unterrichten zu können. Dazu müssten die Stellenpläne und Budgets für die Schulen von Bund und Ländern "im erforderlichen Ausmaß aufgestockt werden, um flächendeckend und bedarfsgerecht Inklusionsplätze im Sinne der Behindertenrechtskonvention anbieten zu können".
  • Inklusionspädagogik ausbauen Wer Inklusion will, muss auch den dafür nötigen Fachkräftebedarf mitdenken und organisieren, was derzeit nicht der Fall ist. Die Initiative fordert die Bundesregierung daher auf, die entsprechenden Ausbildungsplätze an den Pädagogischen Hochschulen "deutlich" aufzustocken und auch entsprechende Arbeitsbedingungen und Anreize bei der Bezahlung der Menschen, die "in diesem herausfordernden und verantwortungsvollen Bereich tätig" sind, zu schaffen.

Riebenbauer, die Mühlbachers und weitere Familien haben aber auch – unterstützt von ihrem Anwalt Wolfram Proksch – eine Klage gegen die Republik eingebracht, weil ihren Kindern die Schule vorenthalten werden soll. "Wir wollen das Recht auf Schule für diese Kinder auch durch ein höchstgerichtliches Urteil durchsetzen."

Betroffene Eltern klagen die Republik

Riebenbauer hat für ihren Sohn Anton formell um ein elftes und zwölftes und gleich auch noch ein 13. Schuljahr angesucht – und erhielt eine "Zurückweisung". Auch Julian Mühlbacher steht gerade an dem Punkt, wo es mit der Schule aus sein soll. Den negativen Bescheid nutzen die Eltern nun für die Klage gegen die Republik: "Da geht es um ein größeres gesellschaftliches Anliegen", sagt Karin Riebenbauer: "Das elfte und zwölfte Schuljahr sind da nur ein kleiner Teil, der für die Familien natürlich extrem wichtig ist, aber grundsätzlich geht es uns auch darum, diese Kinder sichtbar zu machen. Sie sollen Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht bekommen. Wenn man ein Kind mit Behinderung hat, heißt das ab der Geburt: Du du bist immer am Kämpfen. Um einen Kindergartenplatz, den es nicht gibt, um Geburtstagsfeiern, zu denen dein Kind nicht eingeladen wird, und dann auch noch um einen Schulplatz. Diese Kinder werden so oft unsichtbar gemacht. Auch das wollen wir mit unserem Engagement und der Klage verändern."

Die UN-Behindertenrechtskonvention würde diese umfassende Teilhabe und das Recht auf Bildung für Kinder mit Beeinträchtigungen eigentlich verankern, aber in der österreichischen Realität sehe das leider noch immer anders aus. Riebenbauer sieht vor allem die Politik gefordert: "Die Politik ist verantwortlich, dass die Gesellschaft nicht gespalten wird."

Neos sind dazu auf Bundesebene politisch aktiv

Politische Unterstützung auf Bundesebene gibt es für das Anliegen der Elterninitiative seit langem von den Neos. Bereits 2020 haben sie einen Antrag auf Änderung der Regelungen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung im Schulunterrichtsgesetz gefordert. Erst vor einer Woche hat Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre erneut einen Entschließungsantrag zum Thema "Sonderpädgogische Förderung bedarfsgerecht und bis zur zwölften Schulstufe" eingebracht, der im kommenden Unterrichtsausschuss auf der Tagesordnung stehen wird.

Im STANDARD-Gespräch begründet Künsberg Sarre den Einsatz für dieses Thema damit, dass "Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im österreichischen Schulsystem einer groben Diskriminierung ausgesetzt sind, weil für sie der Schulbesuch nicht im gleichen Ausmaß gesichert ist wie für andere Schülerinnen und Schüler. Es fehlen die Lehrpläne für die Oberstufe, es fehlt ein Rechtsanspruch, und es fehlen in großem Ausmaß die notwendigen Bundesmittel für Lehrpersonal. All das gehört dringend geändert, denn jedes Kind soll im Laufe seiner Jugend bestmöglich durch Bildung zu einem selbstbestimmten Leben ermächtigt werden."

Verbandsklage gegen das Bildungsministerium

Es läuft übrigens auch noch eine weitere Klage, die sich um Kinder mit Behinderung und ihr Recht auf Bildung kümmert. Der Klagsverband führt aktuell die erste Verbandsklage nach dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz. Die Klage richtet sich gegen das Bildungsministerium, Ziel ist, dass behinderte Schülerinnen und Schüler Unterstützung für den Schulbesuch bekommen.

"Derzeit ist das nicht der Fall, und das ist diskriminierend", sagte die Klagsverband-Geschäftsführerin Theresa Hammer am Dienstag. "In der Beratung erleben wir immer wieder, dass Kinder keine persönliche Assistenz erhalten, und daher keine Bundesschule, zum Beispiel ein Gymnasium, besuchen können", wurde Sonja Tollinger vom Verein Integration Tirol zitiert. Das führe zu Bildungsbrüchen und schlechteren Chancen am Arbeitsmarkt. Für Eltern, betroffene Kinder und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sei die Situation "schlicht unerträglich".

Für Martin Ladstätter, Obmann von BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, ist die Verbandsklage "leider notwendiger Schritt um dem Recht auf Bildung zum Durchbruch zu verhelfen". Letztlich gehe es auch darum, die von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention endlich umzusetzen. Die Verbandsklage des Klagsverbands wird neben BIZEPS und Integration Tirol auch vom Blinden- und Sehbehindertenverband BSVÖ, Integration Wien, Selbstbestimmt Leben Österreich und Selbstbestimmt Leben Innsbruck unterstützt. (Lisa Nimmervoll, 22.11.2022)

Update: Am 22.11. wurde um 15 Uhr die Verbandsklage gegen das Bildungsministerium eingefügt.