Russlands Teilmobilisierung ist mittlerweile abgeschlossen. Doch die Anwerbung von Soldaten geht weiter.

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Sie sagten uns, dass in Cherson viel gebaut wird und dass wir dorthin müssen. Und dass wir mit Gehältern von 220.000 Rubel rechnen könnten", berichtet der junge Moskauer Arbeitsmigrant auf Eurasianet, einem Portal unabhängiger Medien in Zentralasien. Umgerechnet weit über 3000 Euro – für Menschen in prekären Jobs ist das ein verlockendes Angebot. "Einige aus unserer Gruppe sind gegangen, aber es stellte sich heraus, dass sie mitgenommen wurden, um zu kämpfen."

Seit dem offiziellen Ende der auch in der Öffentlichkeit vielkritisierten Teilmobilisierung von Reservisten wirbt Russland mehr und mehr Vertragssoldaten aus den zentralasiatischen Ländern Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan an. Migranten aus bettelarmen Ländern, die in Russland zumeist für einen Hungerlohn arbeiten. Proteste sind von ihnen nicht zu erwarten.

Neuerdings können sich auch Ausländer zum Dienst in der Armee verpflichten, so ein Dekret des Präsidenten Wladimir Putin vom 14. November. Die Moskauer Stadtbehörden organisieren im Migrationszentrum Sacharowo eine entsprechende Rekrutierungseinrichtung.

Anonyme Anwerbeanrufe

Das Reservoir für die neue Rekrutierungskampagne ist groß. Viele Millionen Menschen aus Zentralasien leben und arbeiten in Russland. Als Taxifahrer, auf Baustellen, in den Supermärkten. Das Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) hat bezüglich der Anwerbeversuche unter Arbeitsmigranten recherchiert. Laut der Menschenrechtsaktivistin Valentina Chupik "geben viele von ihnen an, zahlreiche anonyme Anrufe erhalten zu haben, bei denen man ihnen angeboten hat, sich der russischen Armee anzuschließen und so innerhalb von drei Monaten die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten."

Migranten mit doppelter Staatsangehörigkeit hingegen müssen in der russischen Armee ihren Wehrdienst ableisten, auch wenn sie schon in ihrem Heimatland gedient haben. Wer sich weigert, dem könne die russische Staatsbürgerschaft entzogen werden, so Kirill Kabanow, Mitglied des russischen Präsidialrats für Menschenrechte. Eine Ausnahme gilt nur für Migranten aus Tadschikistan, gemäß einem bilateralen Abkommen sind sie von der Wehrpflicht in Russland befreit.

Teilmobilisierung abgeschlossen

Während die Rekrutierung neuer Soldaten unvermindert weitergeht, ist die Mobilisierung von insgesamt 318.000 russischer Reservisten offiziell abgeschlossen. Ein entsprechendes Dekret hat Präsident Putin allerdings nicht erlassen. Dies sei auch nicht nötig, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Kritiker befürchten, dass die Mobilisierung verdeckt weitergehen könnte.

Vieles deutet darauf hin, dass die für die "Spezialoperation" nötige Truppenstärke nicht erreicht sei, heißt es in einem Bericht des amerikanischen Thinktanks Institute for the Study of War (ISW). Bereits jetzt haben rund 400.000 Menschen wegen der drohenden Einberufung das Land verlassen. Viele hochqualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Und der Protest im Land nimmt zu. Rund 82.000 der eingezogenen Reservisten sollen bereits im Einsatz in der Ukraine sein.

Wie viele andere veröffentlichten auch Angehörige der aus dem Gebiet Woronesch Mobilisierten eine Botschaft mit der Forderung nach Aufklärung über den Verbleib der Rekrutierten. "Wir können nicht herausfinden, wo unsere Jungs sind. Wir bitten die Behörden, uns bei der Klärung zu helfen", sagt eine der Frauen im Video, veröffentlicht vom Internet-Fernsehsender TV Rain.

Schlechte Ausrüstung

Viele Klagen gibt es auch über die mangelhafte Ausrüstung, mit der russische Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Rekruten mussten sich von ihrem eigenen Geld Schlafsäcke, Medikamente oder sogar Armeestiefel für den Winter kaufen. Putin will nun die Finanzflüsse für die Armeeausgaben schärfer kontrollieren lassen.

Es soll eine Art direkter Draht zwischen den in der Ukraine eingesetzten Einheiten und den Herstellern von Rüstungsgütern etabliert werden. Damit will man offenbar auch Korruption und die Veruntreuung von Haushaltsmitteln für die Ausrüstung der Armee unterbinden.

Abgeordnete entsetzt

Auch Politiker äußern sich entsetzt. So hatte der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow, Mitglied im Verteidigungsausschuss, berichtet, es seien eineinhalb Millionen Sätze persönlicher Ausrüstung verschwunden, und niemand erkläre das. Gouverneure kaufen inzwischen am Budget des Verteidigungsministeriums vorbei teilweise selbst Ferngläser und Nachtsichtgeräte für die Einberufenen.

Zuletzt wurde Putin gefragt, ob er bedauere, die in Russland offiziell so bezeichnete "Spezialoperation" begonnen zu haben. Die Antwort: Was heute passiere, sei zwar "wenig angenehm", wäre aber später nur noch schlimmer gekommen. "Also sind meine Handlungen richtig und zeitgemäß." (Jo Angerer aus Moskau, 22.11.2022)