Der neunjährige Andrij hält die Hand seiner Mutter und nickt, als der ukrainische Soldat ihn fragt: "Dort hinten ist es passiert? Neben den Gleisen?" Dann marschiert der Mann einen sandigen Weg entlang den Hügel hinauf zu den Bahngleisen. Dahinter breitet sich der mächtige Kiefernwald aus, von wo aus die Russen den 5.000-Einwohner-Ort Jarowa in der Oblast Donezk am 1. Juni 2022 eingenommen haben. Mehr als drei Monate später befreite die ukrainische Armee die Siedlung.

Zurück blieben ausgebrannte russische Panzer wie jener, auf den Andrij zeigt. Seit einigen Wochen rostet er nun neben den Eisenbahnschienen vor sich hin.

Gemeinsam mit seinen beiden gleichaltrigen Freunden hatte Andrij am Nachmittag hier gespielt und neben dem Panzer ein Feuer gemacht. Plötzlich explodierte etwas und verletzte einen der Buben an der rechten Schulter.

Gefahr von Minen

"Wie hat der Gegenstand denn ausgesehen?", fragt der Soldat, der gemeinsam mit zwei Kollegen zwischen den Trümmern nach den Resten des explosiven Gegenstands sucht. Andrij zuckt mit den Schultern und versteckt sich hinter seiner Mutter. Er hat Angst, dass er etwas falsch gemacht hat und Ärger bekommt. "Es ist alles okay, sie müssen nur verstehen, was explodiert ist", sagt die Mutter, die noch immer unter Schock steht.

Sie möchte lieber kein umfangreicheres Interview geben. Sie sei schwanger und gerade erst aus dem Krankenhaus zurückgekommen, deshalb habe sie nicht auf ihren Sohn aufpassen können.

An der Stelle wurde ein Freund des neunjährigen Andrij beim gemeinsamen Spielen verletzt.
Astrig Agopian

Weder Andrij noch seine Freunde können gegenüber der Polizei konkret beschreiben, was genau an diesem Nachmittag neben dem Panzerwrack explodiert ist. Doch Unfälle wie dieser sind in der Ukraine leider keine Seltenheit. Allein in den ersten beiden Novemberwochen hat das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) fünf Tote und 25 Verletzte durch Minen und explosive Kampfmittelrückstände gezählt. Dabei galt die Ukraine bereits vor dem russischen Angriffskrieg als eines der am vermintesten Gebiete der Welt.

Zivile Opfer

Eigentlich gehört Minenräumung zur Aufgabe des ukrainischen Katastrophenschutzes, doch in der angrenzenden Oblast Charkiw beteiligen sich mittlerweile auch Soldaten wie Iwan Kitschatij an der Arbeit. Im Wald, der im Süden an die Stadt Isjum grenzt, liegen noch immer das Material, die Technik und der Müll, den die Russen in ihren Positionen und Schützengräben zurückgelassen haben.

"Viele Einheimische gehen in den Wald, um Brennholz zu sammeln, weil der Winter naht", sagt Iwan Kitschatij. Sein Gesicht wirkt müde und verfinstert sich, als er von den furchtbaren Vorfällen erzählt, die er in der Vergangenheit hier erlebt hat. "Vor ungefähr einem halben Monat fanden wir im Wald einen toten Zivilisten. Er lag auf dem Bauch. Sein Rücken war von Minensplittern durchbohrt. Er lag dort wahrscheinlich einen Monat lang."

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Langsames Vortasten

Kitschatij setzt langsam einen Fuß nach dem anderen auf das Moos. So tastet sich der 33-Jährige immer weiter vor. Gewöhnlich arbeitet er in einer Gruppe aus zwei Minenentschärfern und vier Soldaten zur Deckung. "Es ist möglich, dass sich einige der Russen noch immer in diesen Gebieten verstecken", erklärt der Soldat. Er stammt selbst aus der Gegend, seine beiden Söhne, sieben und drei Jahre alt, leben mit der Mutter in einem Vorort von Charkiw. "Ich mache diese Arbeit, weil ich eine Familie habe."

Nach dem Abzug hinterließen die Russen viele Tote und vermintes Gelände.
Astrig Agopian

Sieben Kilometer hat er an diesem Tag zurückgelegt und dabei eine einzige sowjetische PFM-Mine entschärft, die aufgrund ihrer Form auch Schmetterlingsmine genannt wird. Laut dem Ottawa-Abkommen, das im Jahr 1997 von der Ukraine, nicht aber von Russland unterzeichnet wurde, gilt ihr Einsatz als verboten. Wie Iwan Kitschatij erzählt, wurden diese Antipersonenminen hier von den Russen in großen Mengen verteilt, um den ukrainischen Angriff auf ihre Stellungen zu stoppen, die Durchquerung des Gebietes zu erschweren und die zurückgelassene Technik für die ukrainischen Soldaten unbrauchbar zu machen. Heute stellen sie vor allem eine immerwährende Gefahr für die lokale Bevölkerung dar.

Infrastruktur im Visier

Im Stadtzentrum von Isjum leuchtet sich Walerij Marchenko, der Leiter der zivilen Militärverwaltung, mit der Taschenlampenfunktion seines Smartphones den Weg durch das stockdunkle Treppenhaus bis zu seinem Schreibtisch. Obwohl es in Isjum seit Wochen wieder Strom und Licht gibt, sitzt Marchenko am 15. November im Dunkeln. Es ist der Tag, an dem Russland mindestens 100 Raketen auf die ukrainische Infrastruktur feuerte. Sein Büro aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch, als er Bürgermeister der Stadt war, gibt es aufgrund der Bomben nicht mehr. Deshalb arbeitet er in einem Gebäude, das einst eine Bildungseinrichtung war.

"Fast eineinhalb Monate hat es gedauert, bis die Mitarbeiter des staatlichen Rettungsdienstes und des ukrainischen Militärs die Stadt von den Minen befreit haben", sagt Marchenko. "Es gab in den ersten Tagen vier bis fünf Unfälle. Mittlerweile ist die Situation besser geworden, aber es wird sehr lange dauern, bis diese Gegend tatsächlich vollständig entmint ist."

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Marchenko ist vor der russischen Belagerung geflüchtet und kam nach der Befreiung zurück. Die Vorstellung, was die Bewohnerinnen und Bewohner von Isjum in den vergangenen acht Monaten durchgemacht haben, ist für ihn sehr schwer zu ertragen. "Obwohl wir sechs Mal humanitäre Konvois vorbereiteten, erlaubten die Russen den Helferinnen und Helfern nicht, in die Stadt zu fahren. Sie schossen auf die Lastwagen und schickten sie zurück."

Zahlreiche Opfer der Okkupation

Von den einst 60.000 Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt ist nur ein Drittel geblieben. Nach den heftigen Kämpfen ist in Isjum kaum ein Haus intakt geblieben. "Hier wohnen Kinder" oder "Hier sind Menschen" haben viele Menschen in ihrer Verzweiflung auf ihre Gartentore geschrieben. In der Hoffnung, dass ihnen das Schlimmste erspart bleibt.

Doch so wie Butscha und Irpin ist auch Isjum zu einem symbolischen Ort für die Verbrechen der russischen Armee geworden. "Es gab Schießereien und Folterungen. Menschen wurden entführt", erklärt Marchenko. In den unmarkierten Gräbern neben dem städtischen Friedhof von Isjum wurden nach der Rückeroberung der Stadt Ende September mehr als 450 Leichen gefunden. Viele von ihnen weisen eindeutige Spuren eines gewaltsamen Todes und Folter auf.

Und selbst Monate nachdem die Gräber entdeckt worden waren, konnten noch nicht alle Leichen identifiziert werden. Viele Bewohner und Bewohnerinnen werden vermisst. "Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert ist", sagt Marchenko. (Daniela Prugger aus Jarowa und Isjum, 22.11.2022)