Psychedelische Gegenwelten: Im Animationsfilm "Strange World" arbeiten drei Generationen mit vereinten Kräften daran, die Welt vor einer Naturkatastrophe zu bewahren.

Disney

Nahe dem höchsten Gipfel kündigt sich eine Zeitenwende an. Vater und Sohn Clade, bisher in ihrem Abenteuergeist innig verbunden, geraten über die weitere Ausrichtung ihrer Route in Streit. Während der bärbeißige Jaeger, der schon äußerlich mit seinem mächtigen Schnauzer einer anderen Spezies zugehörig erscheint, weitermarschieren will, um endlich als Erster das Gebirge zu überqueren, haben es Searcher die an Stachelbeeren erinnernden Sträucher im Schnee angetan, die bei jeder Berührung seltsam zu vibrieren scheinen.

Walt Disney Animation Studios

Wo liegt die ertragreichere Zukunft für die utopische Gemeinschaft, das sagenhafte Avalonia aus der neuen Disney-Animation Strange World, dem kindergerechten Film fürs heurige Weihnachtsgeschäft? Ein paar Jahre später (aber nach nur wenigen Minuten des Films) scheint es entschieden. Searcher ist mit seiner pflanzlichen Entdeckung heimgekehrt und baut die Ressource mittlerweile im großen Stil auf Feldern an.

Ökologisch nachhaltig

Eine Errungenschaft, wie sie die gerade wieder kompromisslerisch beendete Klimakonferenz dringend nötig hätte: Denn Pando, wie der beerige Kraftstoff genannt wird, entpuppt sich als ökologische nachhaltige Energiequelle, die Espressomaschinen genauso wie riesige Erntefahrzeuge betreibt.

Den zerstörerischen Einfluss großunternehmerischer Umweltausbeutung wird man in diesem auffällig utopischen Animationsfilm erfolglos suchen. "Wir wollten uns der Frage, wie wir in Zukunft Energie und Transport regeln, um der Klimakatastrophe zu entgehen, aus einer neuen Perspektive widmen", sagt Don Hall im STANDARD-Interview, neben Qui Nguyen Ko-Regisseur des Films: "Und zwar mit der Ausrichtung, dass wir alle eine Rolle spielen: Wir tragen die Verantwortung für kommende Generationen. Es gibt eine andere Version dieses Films, in dem ‚Big Pando‘ der unternehmerische Bösewicht wäre. Aber das kennen wir doch schon!"

Auf Zeitgeist gestimmt

Eine bezeichnende Neuausrichtung: Der Disney-Konzern, seit Jahren um ein zeitgenössischeres, ja "wokes" Profil in gesellschaftlichen Fragen bemüht, entdeckt das "green thinking". Und nicht nur das: Auch mit Blick auf die Repräsentationspolitik seiner Figuren fällt auf, dass Strange World auf der Höhe eines auf Inklusion ausgerichteten Zeitgeists ist. Mit erfreulicher Gelassenheit wird uns etwa Searchers Ehe mit der afroamerikanischen Meridian präsentiert, aus der der jüngste Spross der Familie, der latent queere Ethan, hervorgegangen ist.

Die Befürchtung, dass sie mit diesem Gesellschaftsmodell den weniger fortschrittlichen Teil des Publikums verärgern könnten, haben Hall und Nguyen nicht. Letztlich hätte man kaum Einfluss darauf, was Menschen denken, so Hall schulterzuckend. "Es gibt auch keinen Auftrag von oben aus der Chefetage, wie wir unsere Figuren anlegen sollen. Wir machen auch nichts Revolutionäres. Im Gegenteil, es handelt sich um eine Welt, die wir sehr gut kennen. Und in die wir auch selbst hineingehören", bekräftigt Nguyen.

Vertikal statt horizontal

Dass diese Welt viel unerforschter, ja nachgerade surreal anmutet, liegt an der originellen Umkehrung, die der Film innerhalb des Kosmos des Abenteuerfilms leistet. Als Pando nämlich die äußeren Anzeichen einer Fäulnis zeigt, wird eine Notmission gestartet, der nicht nur Searcher, sondern – selbstermächtigt – die gesamte Familie angehört.

Statt expansiv ausgerichtet zu sein, etwa als Suche nach Ersatzressourcen, führt die Reise entlang des verschlungenen Wurzelwerks der Pflanze tief ins Innere der Erde. Strange World hat Spurenelemente von Arthur Conan Doyles Die vergessene Welt und ist zugleich eine einfallsreiche Verquickung von Jules Verne’scher Fantastik mit rezenten Theorien Donna Haraways über die Verwandtschaft der Arten.

Visuell kommt ein solches Potpourri einem Freibrief für schöpferische Unbegrenztheit gleich. Kreaturen wie aus den dunklen Tiefen der Unterwasserwelt treffen auf urzeitähnliche Ahnen, dann wieder bieten sich Vergleiche mit einer bizarren Pflanzenwelt an. "Eine Figur basiert auf der Verbindung von Wurst und Knoblauchzehen", verrät Nguyen. "Die Devise lautete, seltsam und ‚weird‘ zu sein – diesen Titel sich also wirklich zu verdienen." Der Wahnsinn hat in Strange World aber auch Methode. Es braucht den Austausch dreier Männergenerationen, um das Geheimnis zu lüften – dahingehend ist der Film fast noch am altmodischsten. (Dominik Kamalzadeh, 22.11.2022)