One Love. Zwei Wörter, die bei der Fußball-WM in Katar eine Debatte ausgelöst haben.

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Es wird ein interessanter dritter Spieltag bei der Fußball-WM in Katar. Vier Partien stehen an (alle Spiele ab 11 Uhr im Liveticker), nicht zuletzt wird sich zeigen, ob jene europäischen Teams, die ihre Kapitäne mit One-Love-Armbinde aufs Feld schicken wollten, wirklich geschlossen der Fifa nachgeben, die mit gelben Karten gedroht hatte. Auflehnung ist am ehesten den Dänen mit ihrem Kapitän Simon Kjaer zuzutrauen, die um 14 Uhr in Gruppe D gegen Tunesien antreten.

Die Verbände und die Spieler sehen sich seit ihrem Rückzieher dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden Prinzipien verraten, um nicht durch gelbe Karten ihre Erfolgschancen zu mindern. Wenn man so will, hat Fifa-Präsident Gianni Infantino in dieser Frage die Spieler zum Spielball gemacht. Der Historiker und Sportwissenschafter Rudolf Müllner hat in dieser Frage dennoch "bis zu einem gewissen Grad" auch Verständnis für die Fifa, wie er im Interview erklärt.

STANDARD: Wie groß ist das Verständnis des Sporthistorikers dafür, dass die Fifa den WM-Kapitänen Armbinden verbietet, auf denen ein Herz in Regenbogenfarben prangt und "One Love" aufgedruckt ist?

Müllner: Ich verstehe es bis zu einem gewissen Grad. Auch wenn das Verbot an sich unsympathisch ist. Besonders unsympathisch ist, dass die Fifa den Teamkapitänen mit gelben Karten gleich zu Spielbeginn gedroht hat statt mit Geldstrafen, die eigentlich angesagt wären.

Der Historiker und Sportwissenschafter Rudolf Müllner kann die Fifa "bis zu einem gewissen Grad" verstehen.
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STANDARD: Aber das Verbot an sich ist nachvollziehbar?

Müllner: Unsympathisch, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Denn natürlich ist One Love keine unpolitische Botschaft. Vom Framing her ist das mit Sicherheit ein politisches Statement. Und es gibt zu diesem Termin an diesem Ort einen eindeutigen Adressaten. Die Botschaft ist an den Gastgeber gerichtet.

STANDARD: Der Präzedenzfall war ja schon vorher, dass den Dänen das Tragen von Trainingstrikots mit dem Aufdruck "Menschenrechte für alle" verboten wurde. Aber fallen solche Sprüche nicht in die Kategorie Allgemeingültiges?

Müllner: Auch "Menschenrechte für alle" scheint auf den ersten Blick eine unhinterfragbare universalistische Botschaft. Aber auch in ihr steckt der Vorwurf, dass in Katar im Hinblick auf Menschenrechte eben vieles im Argen liegt. Doch dass Katar ein problematischer Staat ist, weiß man nicht erst jetzt, sondern seit Jahren.

STANDARD: Und was wäre, wenn die Fifa One Love einfach durchgehen ließe?

Müllner: Dann kommt die nächste Botschaft und dann noch eine. Und dann würde der "apolitische" Raum des Sports, der eine Voraussetzung dafür ist, dass Sport stattfinden kann, ganz grundsätzlich gefährdet. Denken Sie etwa an die Olympischen Spiele 1968, bei denen die amerikanischen Athleten Tommie Smith und John Carlos den Black-Power-Salut gezeigt haben. Das wurde beinhart sanktioniert. Der Sport zeichnet sich halt durch seine politisch-apolitische Kopräsenz aus. Das macht es so schwer, eine Grenze zu ziehen.

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STANDARD: Klingt so, als müsste sich der Sport zerreißen, wenn er es allen recht machen will.

Müllner: Dem Sport ist eine tiefe Doppeldeutigkeit eingeschrieben. Eine Fußball-WM ist ein mächtiges massenkulturelles Ereignis, in dem sich diese Ambivalenz verdichtet. Sie kann für verschiedenste politische, ökonomische oder sonstige Interessen dienstbar gemacht werden. Auf der anderen Seite trägt Sport seit Anfang an jedoch eine Art von "Eigenweltlichkeit" in sich. Sport ist demnach bloß die "wichtigste Nebensache der Welt" und daher in gewisser Weise "folgenlos", politisch unbedeutend.

Eine bis heute legendäre Sportszene: Tommie Smith und John Carlos mit dem Black-Power-Salut bei den Olympischen Spielen 1968.
Foto: imago images/sportfotodienst/United Archives International

STANDARD: Aber es wird doch, wie auch Katar zeigt, immer schwieriger, den Sport als politikfreie Zone zu inszenieren.

Müllner: Dass Organisationen wie die Fifa weiter auf dieser Schiene fahren wollen, hat einen guten Grund. Die propagierte "politische Neutralität des Sports" ermöglicht es ihnen, Großevents auch in diktatorischen Regimen abzuhalten, weil es dabei ja "nur um Sport" und nicht um Politik gehe. So kann die Fifa ohne größere Konsequenzen weiterhin politische und vor allem ökonomische Eigeninteressen verfolgen. Aber es sind nicht nur die Sportorganisationen, die profitieren. Es sind viele Interessengruppen, letztlich alle am Sportgeschehen Beteiligten. Es sind die Medien, die Medienkonsumenten, die Fans, die Spieler, Funktionäre, Rechteverwerter und jede Menge weiterer ökonomischer Profiteure.

STANDARD: Täuscht das Gefühl, dass die Aufregung bei diesem sportlichen Großereignis – etwa im Vergleich zu den Olympischen Winterspielen im Februar in China, wo riesige Umerziehungslager für Uiguren weitgehend unter dem Radar blieben – besonders groß ist?

Müllner: Es gibt eine Erregungskultur, die stark mit Medienlogik zusammenhängt. Um Argumente geht es da in erster Linie nicht immer, und Aufregung bringt Quote. Ich denke aber, dass sich die Aufregung, so es keine besonderen Vorfälle gibt, auch wieder legen wird. Es ist eine Fußball-WM, sie wird tolle Spiele liefern, die Leute werden dann natürlich auch mehr über Fußball diskutieren. Am Sonntag war der Formel-1-GP in Abu Dhabi, das ist von Katar nicht weit entfernt. Dort ist die Menschenrechtslage um nichts besser. Aber da hat man keine öffentlichen Proteste gesehen oder Boykottaufrufe vernommen. (Fritz Neumann, 22.11.2022)

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