Ukrainische Kinder aus der selbsternannten "Volksrepublik Luhansk" werden auf ihren Transfer ins russische Nowosibirsk vorbereitet.

Foto: IMAGO/Alexandr Kryazhev

Was den Nazis recht war, ist nun auch Wladimir Putin billig. Der russische Präsident ermöglicht und begünstigt offen die Deportation ukrainischer Kinder bis nach Sibirien. Sie werden ihrer Heimat, teils auch ihren Familien entrissen und tragen schwere Traumata davon. Laut den geltenden, von Moskau ratifizierten Uno-Konventionen beinhaltet dieses klare Kriegsverbrechen auch eine genozidäre Absicht.

Zu den Ersten, die diese Massenentführung publikmachten und anprangerten, gehört eine Gruppe französischer Wissenschafter und Autoren. Sie veröffentlichten im August in der Pariser Zeitung "Le Monde" eine Zuschrift unter dem Titel: "Ukrainische Kinder zu deportieren und zu 'russifizieren' bedeutet, die Ukraine ihrer Zukunft zu berauben".

"Filtrationszentren" und "Ferienkolonien"

Die Mitunterzeichnerin Sylvie Rollet, Filmexpertin und Vorsteherin der Pariser Vereins "Für die Ukraine, für unsere und ihre Freiheit", schildert gegenüber dem STANDARD, warum es sich um eine regelrechte Deportation handle. Sie betreffe ukrainische Kriegswaisen, aber längst nicht nur sie. Viele Kinder würden in russischen "Filtrationszentren" von ihren Eltern getrennt; andere wiederum kehrten nicht mehr aus "Ferienkolonien" in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten zurück.

Laut Rollet werden sie zusammen mit anderen isolierten Minderjährigen nach Russland transportiert und dort bisweilen in die entlegensten Landesregionen wie Nowosibirsk, Murmansk oder an die Grenze zu Nordkorea gebracht. Wohin genau, erfahren die zurückgebliebenen Angehörigen nur, wenn es den Kindern gelingt, sie anzurufen.

Hunderttausende Kinder betroffen

Wie viele Kinder gekidnappt wurden, ist sehr schwer zu sagen. Das französische Kollektiv geht von 300.000 aus. Diese Zahl umfasst auch die Kinder, die zusammen mit ihrer Familie nach Russland verfrachtet wurden und werden. Die Zahl der ohne Eltern entführten Kinder dürfte einen Bruchteil ausmachen – aber immer noch mehr als die 11.000 namentlich bekannten Kinder, die laut der ukrainischen Regierungswebseite "Children of war" allein deportiert wurden.

Putin hat dafür die Rahmenbedingungen geschaffen: Zum einen gelten ukrainische Neugeborene, die in den russisch besetzten Gebieten nach dem 24. April auf die Welt gekommen sind, heute automatisch als Russen. Weigern sich ihre Eltern, den russischen Pass anzunehmen, wird ihnen das Sorgerecht – das heißt das Kind – entzogen.

Laut Dekret Waisenkinder

Seit dem Monat Mai können Russen auch ukrainische Kinder adoptieren, die laut einem Dekret Putins "als Waisen gelten". Ob die Eltern tot sind, muss also kaum belegt werden. Auch müssen die adoptierten Kinder nicht mehr Russen sein, wie es das russische Recht bisher verlangte.

Oleksandra Romantsowa vom ukrainischen "Zentrum für bürgerliche Freiheiten" – das im Oktober den Friedensnobelpreis erhalten hat – führte bei einer Pressekonferenz in Paris aus, wie russische Soldaten die Deportation ukrainischer Kinder fördern: "Sie schießen zuerst auf Kindergärten, Schulen und Waisenhäuser. Dann geben sie vor, dass sie die Kinder an einen sicheren Ort bringen. Der befindet sich oft mehr als 1.000 Kilometer entfernt im Osten oder Norden Russlands."

Vielsagend ist, dass der Kreml diesen völkerrechtswidrigen Kinderraub keineswegs verheimlicht. Putins "Kommissarin für Kinderrechte", Maria Lwowa-Belowa, erklärt im russischen Fernsehen, sie lasse gefährdete Kinder aus Städten wie Mariupol oder Cherson "evakuieren" und "retten". Ausdrücklich spricht die fünffache Mutter von den Wohltaten der "Umerziehung".

"Liebe zu Russland"

Einen 16-Jährigen aus Mariupol hat die Putin-Vertraute selbst adoptiert. Vor einer TV-Kamera erzählte sie mit einem Teddybär im Arm, die Kinder aus der zerbombten Stadt hätten zuerst die ukrainischen Nationalhymne gesungen, als man sie aus den Kellern geholt habe; mittlerweile habe sich ihre Haltung aber in "Liebe zu Russland" verwandelt.

Von ukrainischer Seite sind auf Twitter Kommentare zu lesen wie: "Sie sieht Goebbels Frau auch noch ähnlich." Der franko-amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell wurde bei der Pariser Pressekonferenz gefragt, ob das Verhalten Moskaus nicht an die breitflächige Deportationspolitik der Stalin-Ära gemahne. Littells Antwort: "Mich erinnert das eher an das Vorgehen der Nazis gegenüber Polen." Damals seien 50.000 bis 200.000 polnische und slawische Kinder mit blonden Haaren und blauen Augen nach Deutschland entführt und dort assimiliert worden.

"Russifizierung" statt "Arisierung"

Nur das Motiv ist heute anders: Den Nazis ging es um die "Arisierung", Putin folgt dem Konzept der "Russifizierung", wie seine Adoptionsdekrete belegen. Dazu Sylvie Rollet: "Mit seiner 'Spezialoperation' will Putin die Ukraine letztlich ausmerzen. Er negiert ihre Vergangenheit, die kulturellen Traditionen und ihre staatliche Legitimität. Die 'Russifizierung' ukrainischer Kinder ist Teil dieser Politik."

Ein Verbrechen an der Menschheit ist das auch aufgrund der Genfer Völkermord-Konvention von 1948: Sie nennt als eines von fünf Merkmalen eines Genozids den "Transfer von Kindern". Sich von Staats wegen an Kindern zu vergehen: Mehr ist nicht nötig, um das Regime in Moskau als eindeutig verbrecherisch und totalitär auszuweisen. Die Pariser Intellektuellen fordern die europäischen Instanzen deshalb in einem offenen Brief auf, mit Nachdruck die Freigabe der Kinder zu verlangen. Bis es so weit sei, müssten Hilfswerke wie Unicef und das Rote Kreuz Zugang zu den entführten Kindern erhalten.

Auch auf politischer Ebene müsse die Deportation von Kindern Folgen haben, schreiben die Unterzeichner: Da Putin nur auf Druck reagiere, müsse die Ukraine schwere Waffen erhalten; jede Verhandlung mit dem Kreml-Chef sei zu unterlassen. Und für die Zeit nach dem Krieg müssten internationale Strafgerichte die Verantwortlichen wie Putin oder Lwowa-Belowa zur Rechenschaft ziehen. (Stefan Brändle aus Paris, 23.11.2022)