Torschütze Salem Al-Dawsari stellt die Fußballwelt auf den Kopf.

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Da war die argentinische Welt noch in Ordnung: Messi traf zum 1:0.

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Messi jubelt.

Aber am Ende freut sich Saudi-Arabien.

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Lusail – Der Fußballgott rächt sich an seinem Gastgeber. Am Tag, nachdem Katars wichtigster Alliierter Iran von seinen hymnenverweigernden Kickern eine stille Watsche und dann mit 2:6 einen schallende sportliche von England bekam, feierte ausgerechnet der Nachbar und geopolitische Intimfeind Saudi-Arabien eine der größten Sensationen der jüngeren WM-Geschichte. Der Außenseiter schlug in Gruppe C Argentinien 2:1.

Nach zehn Minuten schien es für den WM-Mitfavoriten ein Auftakt aus dem Bilderbuch zu werden. Lionel Messi schüttelte einen kleinlichen VAR-Elfer zum 1:0 ins Tor, das war nur eine Frage der Zeit gewesen. Legionen an Sportjournalisten richteten bereits die Etiketten "bemüht" und "wacker" für die nach vorne blassen Saudis her. In Führung liegend hatten die Argentinier maximale Spielkontrolle, immer wieder war einer samt Ball auf und davon. Aber einer hatte stets etwas dagegen – der slowenische Linienrichter. Und wenn der einmal stillhielt, tanzte Señor VAR an: Abseits!

Trainerfuchs

Hervé Renard ließ seine Elf mit einer hohen Defensivkette spielen, Verteidigungsmechanismus Nummer eins war die Abseitsfalle. Und in diese rannten die Argentinier wie die Lemminge. Manchmal um Meter, einmal um Millimeter, die wirklich nur mehr die automatische Abseitserkennung sieht. Ohne Abseits wäre es zur Pause 4:0 gestanden, aber das Spiel mit dem Feuer war aufgegangen. Niemand ist so sehr Trainerfuchs wie Renard. Trotzdem: Nach vorne geschah wenig.

"Unser Trainer hat uns mit seiner Ansprache vor dem Spiel zum Weinen gebracht", erzählte Mittelfeldmann Abdulelah Almalki. Und: "In der Halbzeit hat er uns angeheizt." Des Grillmeisters Schützlinge kamen funkensprühend aus der Kabine und erlebten fünf Minuten, die wohl noch geraume Zeit die größten der saudischen Fußballgeschichte sein werden. Nach einem seltenen Ballverlust der Argentinier wurde Saleh Al-Shehri auf die Reise geschickt und traf ins lange Eck (48.). Allgemeine Reaktion: Wow, spannend, wie lange sie das nun wohl halten können?

Gezählte fünf Minuten. Dann kam Salem Al-Dawsari, dann kam eine Drehung, dann kam ein Zuckerschuss ins Kreuzeck. 2:1 für den außenseitrigsten Außenseiter dieser ersten Gruppenspiele. Die Saudis blieben in Führung bestens organisiert, ließen trotz aller sichtbarer argentinischen Qualität kaum mehr Gefahr entstehen.

Der Riegel

Immer wieder packte ein Zauberer der Albiceleste einen Gegenspieler ein, doch stets war der nächste zur Stelle – und zwar mit einer Kompromisslosigkeit, die Fans des britischen Fußballs der 1970er die Zunge schnalzen ließe. Während die Saudis mit Hingabe, aber auch mit voller Konzentration um jeden Ball kämpften, wurden Messi und Co immer ratloser.

Es war bei weitem keine taktische Kapitulation, die Südamerikaner verlegten sich nicht auf hohe Verzweiflungsbälle, aber das raumöffnende Kombinationsspiel fand nur verschlossene Türen. Hie und da brannte es, einmal hatte Messi gar das verlassene Tor vor sich – aber eben auch noch vier arabische Beinpaare, die ihn belagerten.

Die zahlenmäßig unterlegenen Saudi-Fans boten großes Mimikballett, man will nicht glauben, wie weit man Augen und Mund aufreißen kann. Jeder weggedroschene Ball wurde wie der Weltmeistertitel beschrien. In Saudi-Arabien finden sich dann doch mehr Fußballbegeisterte als in Katar.

Am Ende hatte Argentinien den Ball viermal im Tor versenkt, Saudi-Arabien dagegen überhaupt nur dreimal geschossen. Endstand: 1:2. So ist der Fußball manchmal. Wie groß der Schock für Argentinien ist, lässt sich trotz aller Färöer-Erfahrung für ein Land, in dem Fußball nur ein Sport ist, kaum beschreiben. Im Interviewbereich weinte ein argentinischer Journalist.

"Es gibt keine Entschuldigung", sagte Messi, der nun bei vier WM-Endrunden getroffen hat. "In dieser Situation waren wir sehr lange nicht." 36 Spiele war die Albiceleste ungeschlagen gewesen, hatte dabei die Copa América geholt. Aber, sagte Messi: "Dinge passieren aus einem Grund. Wir sind eine starke Einheit, und wir werden einander nicht im Stich lassen." Samstagabend muss gegen Mexiko der Beweis folgen. (Martin Schauhuber aus Lusail, 23.11.2022)

Technische Daten

Fußball-WM in Katar, Gruppe C (1. Runde):
Argentinien – Saudi-Arabien 1:2 (1:0)
Lusail, Lusail Stadium, 88.012 Zuschauer, SR Vincic/SLO

Tore: 1:0 (10.) Messi (Elfmeter)
1:1 (48.) Alshehri
1:2 (53.) Aldawsari

Argentinien: E. Martinez – Tagliafico (71. Acuna), Romero (59. Lisandro Martinez), Otamendi, Molina – Paredes (59. Fernandez), De Paul – Di Maria, Messi, Gomez (59. Alvarez) – Lautaro Martinez

Saudi-Arabien: Alowais – Albulayhi, Abdulhamid, Altambakti, Alshahrani (99. Alburayk) – Almalki, Aldawsari, Alshehri, Kanno – Albrikan (89. Asiri), Alfaraj (45.+3 Alabid/88. Alamri)

Gelbe Karten: Almalki, Albulayhi, Aldawsari, Abdulhamid, Alabid, Alowais