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30.000 Dollar kostet ein Wal, wenn er am Markt gehandelt wird.
Foto: Getty Images/wildestanimal

Die Natur ist das größte Kapital, das wir haben. Ohne Wasser kein Leben. Ohne Wälder keine Filterung des im CO2 enthaltenen Kohlenstoffs. Doch wir behandeln die Natur nicht so, als wäre sie unser größter Schatz. Böden werden versiegelt, Regenwälder abgeholzt, Wasser verschmutzt, Meere mit Plastik zugemüllt. Die Folgen dieses Raubbaus an Mutter Erde werden immer deutlicher: Hitzewellen, Unwetter – Klimakrise.

"Wir haben die Nutzung der Natur überstrapaziert", sagt Markus Müller, ESG Chief Investment Officer der Deutschen Bank. Der Fehler, der diesem Denken zugrunde liege, sei, dass wir der Natur bisher keinen Wert und einen zu geringen Stellenwert gegeben haben. Das sei ein großer Marktfehler, den es zu korrigieren gelte. In Marktanalysen müsste laut Müller nämlich der systemische Wert der Natur einbezogen werden. Ein Beispiel: "Der systemische Wert eines Wals liegt bei drei Millionen Dollar. Diesen Wert hat der Internationale Währungsfonds (IWF) errechnet. Inkludiert ist dabei, was ein Wal im Laufe seines Leben Positives für das Ökosystem der Meere und die Umwelt leistet. "Der Marktpreis eines Wals liegt hingegen bei 30.000 Dollar", sagt Müller. "Es gibt einen Unterschied zwischen Wert und Preis", sagt der Experte für Nachhaltigkeit. Diesbezüglich müssen wir unser ökonomisches Verständnis wieder neu ausrichten.

Positive Ökobilanz von Walen

Doch was macht einen Wal eigentlich für die Natur so wertvoll? Laut IWF speichert ein einzelner Wal im Laufe seines Lebens etwa 33 Tonnen Kohlendioxid. Angenommen wird dabei eine durchschnittliche Lebensdauer von 60 Jahren. Zum Vergleich: Ein ausgewachsener Baum nimmt jährlich bis zu 22 Kilogramm Kohlenstoff auf. Ein Wal schafft also das, was 1.500 Bäumen absorbieren können. Stirbt ein Wal, sinkt sein Kadaver auf den Meeresboden und wird zu einer Kohlenstoffsenke. Zudem ist der Kot von Walen reich an Eisen, Phosphor und Stickstoff – also jenen Stoffen, die Plankton zum Wachsen braucht. Plankton wiederum fängt laut der IWF-Berechnung rund 40 Prozent des weltweit produzierten Kohlendioxids ein und trägt die Hälfte zur Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre bei.

Weil Kohlenstoff mittlerweile einen Preis bekommen hat, der pro Tonne abgerechnet wird, lässt sich auch der Wert des Wals damit in einem Begriff ausdrücken, den die Welt besser versteht: in Geld. Über die Reduzierung von Walfangquoten und die Erholung von Walpopulationen nachzudenken ist so gesehen doppelt wertvoll. Eben weil ein Wal für die Natur so viel mehr bringt, als sein Marktwert widerspiegelt.

2,3 Millionen Dollar ist der systemische Wert eines Waldelefanten.
Foto: Connie Allen

Nachhaltigkeit in der Wirtschaft mitdenken

Waldelefanten befreien bei ihren Wanderungen durch die Wälder Zentral- und Westafrikas die Böden von Gebüsch und Unkraut. Das schafft Platz, damit Jungbäume austreiben können, sie profitieren von einem besseren Zugang zu Wasser und Licht, was sich positiv auf ihr Wachstum auswirkt. Je größer ein Baum, desto mehr CO2 kann er binden und Sauerstoff produzieren. Elefantendung enthält Baum- und Strauchsamen, die über große Distanzen verteilt werden. Einem Elefanten bringt das einen systemischen Wert von 2,3 Millionen Dollar. Die Realität: 2019 wurden 42,5 Tonnen afrikanischen Elfenbeins beschlagnahmt, um 30 Prozent mehr als 2018.

Das System der umweltökonomischen Gesamtrechnungen ist nicht neu. Mit dem SEEA (System of Experimental Ecosystem Accounting) wird seit rund zehn Jahren versucht, einen statistischen Rahmen für Ökosystembilanzen zu erstellen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bemisst ja nur, was in eine Volkswirtschaft einfließt und was rausfließt – aber nicht die destruktive Kraft oder den systemischen Wert diverser Prozesse. Man müsse die Ökologie stärker im wirtschaftlichen Bereich und in der Finanzwelt mitdenken, sagt Müller. "Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, ist es ein Marktversagen, wenn wir den Wert der Natur und seiner ökosystemischen Dienstleistung nicht in unsere Entscheidung miteinbeziehen."

Transparenz und ihre Folgen

Banken müssen im Sinne der von der EU erschaffenen Taxonomie künftig bereits einen Teil ihrer Kredite in nachhaltige Projekte investieren und das im Sinne der Transparenz auch ausweisen. "Die Finanzindustrie wird diese Informationen sukzessive dazu nutzen, um die Qualität von Finanzierungen und Investments über nichtfinanzielle Dimensionen hinsichtlich Chance und Risiko beurteilen zu können", sagt Müller.

Damit werde besser einzuschätzen sein, welche Risiken ein Unternehmen eingeht. Wird der CO2-Ausstoß nicht richtig gemanagt oder an der Verbesserung der CO2-Bilanz nicht gearbeitet, werde das mit höheren Kapitalkosten einhergehen. Die Bank of England hat in einer Studie festgehalten, dass Unternehmen, die sich nicht an einer Klimastrategie orientieren, künftig mit Bewertungsabschlägen rechnen müssen. Die niederländische Zentralbank hat Anfang 2019 die Principles for Responsible Investment (PRI) unterzeichnet. Das Weiße Haus hat im April angekündigt, eine Natural-Capital-Accounts-Initiative zu starten, um Veränderungen in der Natur mit Veränderungen in der Wirtschaftsleistung in Verbindung zu bringen. Damit soll es gelingen, den wirtschaftlichen Wert zu messen, den natürliche Vermögenswerte der Gesellschaft bieten – von Wäldern, Riffen, Fischbeständen und städtischen Parks bis hin zur Qualität der Luft und des Wassers.

140 Billionen Dollar Natur

Noch kann nicht jeder Teil der Natur und des Ökosystems so gut bemessen werden, wie der des Wals. Die OECD schätzt, dass der Wert der Natur laut aktuellem Wissensstand 140 Billionen Dollar beträgt.

In Summe werde der Umgang mit der Umwelt sich wohl erst ändern, wenn die Menschen deren Wert – in Zahlen umgesetzt – besser erfassen können. Der Effekt, den etwa Unternehmen auf ihre Umgebung haben, wird damit auch besser messbar. Kennt ein Unternehmen den wahren Wert des Flusses, der neben der Fabrik vorbeifließt, wird eine Filteranlage zur Selbstverständlichkeit, so die Hoffnung.

"Die Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit hat auch ein unglaubliches Entwicklungspotenzial", sagt Müller. Das zeige sich etwa an ganz neuen Geschäftsideen, etwa dem Netzwerk "1000 Ocean Start-ups". Denn neue Ideen zur Rettung der Meere werden auch für das Überleben der wichtigen und ökosozial wertvollen Wale sorgen. (PORTFOLIO, Bettina Pfluger, 13.1.2023)