Trainer Flick steht vor seiner ersten Endrunde mit dem deutschen Team.

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In der Blase namens Al-Shamal verhielt sich die deutsche Nationalmannschaft am Tag vor ihrem Auftaktmatch ganz so, als ob es derzeit wirklich darum geht, einen guten Start für die Mission Weltmeistertitel zu erwischen. "Es ist wichtig, den Flow zu entwickeln", sagte ausgerechnet Kapitän Manuel Neuer also nach dem Abschlusstraining im Luxusressort im Norden Katars, etwa eine Autostunde von Al-Rayyan entfernt. Dort, im Khalifa International Stadium, wartet heute (14 Uhr MEZ) Japan. Bundestrainer Hansi Flick muss den von Knieproblemen geplagten Bayern-Star Leroy Sané vorgeben und auch so tun, als ob der Sport das Thema des Tages wäre. Tatsächlich ist daheim der abgeblasene Protest im Fokus, der Verzicht Neuers, die "One Love"-Binde zu tragen, weil der Weltverband Fifa quasi im letzten Moment mit Bestrafung durch eine gelbe Karte droht, sollte der Kapitän gegen die Wettbewerbsvorschrift verstoßen, wonach nur von der Fifa gestellte Kapitänsschleifen zu tragen sind. Die veröffentlichte Meinung ist ziemlich klar: Neuer, vor allem aber der Deutsche Fußballbund (DFB) sollten der Fifa trotzen. Salz in die Wunde streuen Aktionen wie jene der ZDF-Kommentatorin Claudia Neumann, die eine Kollegin der BBC nachahmte und zum Match zwischen den USA und Wales im T-Shirt mit Aufdruck in Regenbogenfarben und einer passenden Armbinde auftauchte.

Wohlfeile Konsequenz

Die Kritik am abgeblasenen Aufstand des DFB und gegen das Gebaren der Fußballverbände allgemein machen sich nun auch Geldgeber des Spektakels zu eigen. Als erster großer Sponsor beendete Rewe am Dienstag die Zusammenarbeit mit dem DFB. "Die skandalöse Haltung der Fifa ist für mich als CEO eines vielfältigen Unternehmens und als Fußballfan absolut nicht akzeptabel", sagte Firmenboss Lionel Souque in einer Mitteilung des Handelskonzerns: "Wir stehen ein für Diversität – und auch Fußball ist Diversität. Diese Haltung leben wir, und diese Haltung verteidigen wir – auch gegen mögliche Widerstände." Rewe sehe sich gezwungen, sich "in aller Deutlichkeit von der Haltung der Fifa zu distanzieren und auf seine Werberechte aus dem Vertrag mit dem DFB – insbesondere im Kontext der Weltmeisterschaft – zu verzichten", hieß es weiter.

Dass Rewe bereits im Oktober dem DFB mitgeteilt hatte, den langjährigen Partnerschaftsvertrag nicht weiterzuführen, steht auf einem anderen Blatt.

Andere Geldgeber stimmen in den Chor der Kritiker ein. "Wir sind davon überzeugt, dass Sport offen für alle sein muss", teilte Oliver Brüggen, der Sprecher des Fifa- und DFB-Partners Adidas, mit. "Wir unterstützen unsere Spieler*innen und Teams, wenn sie sich für positiven Wandel einsetzen. Sport bietet wichtigen Themen eine Bühne. Es ist unerlässlich, die Diskussion fortzuführen." Dass die Belgier aus angeblich kommerziellen Gründen nicht das Wort "Love" am Kragen ihrer Auswärtstrikots tragen dürfen, konnte Fifa-Hauptsponsor Adidas, der die Kollektion mitkreiert hat, auch nicht verhindern.

Ruf nach Boykott

Zumindest in Deutschland zeigen die Fans in ihrer Mehrheit kein Verständnis für das Einknicken der zunächst zum Protest entschlossenen Verbände. 60,3 Prozent der 1100 Teilnehmerinnen an einer Umfrage der Voting-App FanQ gaben an, dass sie "sehr enttäuscht" seien. 35,3 Prozent wünschten sich als Reaktion auf den Streit mit der Fifa sogar einen WM-Boykott des DFB-Teams.

Davon konnte natürlich keine Rede sein. Geschäftsführer Oliver Bierhoff beklagte "die Drucksituation – wohl wissend, dass sowohl Spieler als auch Trainer mit den Köpfen beim Spiel sind".

Coach Flick versuchte, das Thema in Al-Shamal so gut wie möglich auszublenden. Nach dem historischen Vorrunden-Aus bei der WM 2018 und der Achtelfinalenttäuschung bei der EM im vergangenen Jahr sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Weshalb auch die Japaner wie die folgenden Gruppengegner Costa Rica und Spanien eifrig studiert wurden. Die "Samurai Blue" haben nach drei Achtelfinalteilnahmen diesmal das Viertelfinale als Ziel. Nationaltrainer Hajime Moriyasu gebietet über 17 Profis, die in Europas Top-Ligen Geld verdienen, acht davon in Deutschland. Das Bindenproblem haben die Japaner nicht. (Sigi Lützow, 22.11.2022)

Technische Daten und mögliche Aufstellungen:

Gruppe E – 1. Runde:

Deutschland – Japan
(Al Rayyan/Khalifa International Stadium, 14.00 Uhr/live ORF1, SR Barton/SLV)

Deutschland: 1 Neuer – 5 Kehrer, 15 Süle, 2 Rüdiger, 3 Raum – 6 Kimmich, 21 Gündogan – 18 Hofmann, 14 Musiala, 10 Gnabry – 7 Havertz

Ersatz: 12 Trapp, 22 ter Stegen, 4 Ginter, 16 Klostermann, 20 Günter, 23 Schlotterbeck, 25 Bella-Kotchap, 8 Goretzka, 11 Götze, 13 Müller, 17 Brandt, 9 Füllkrug, 24 Adeyemi, 26 Moukoko

Es fehlt: Sané (Knieprobleme)

Japan: 12 Gonda – 19 Sakai, 22 Yoshida, 16 Tomiyasu, 5 Nagatomo – 6 Endo, 7 Shibasaki – 8 Doan, 10 Minamino, 11 Kubo – 25 Maeda

Ersatz: 1 Kawashima, 23 Schmidt, 2 Yamane, 3 Taniguchi, 4 Itakura, 26 H. Ito, 9 Mitoma, 13 Morita, 14 J. Ito, 15 Kamada, 17 Tanaka, 24 Soma, 18 Asano, 20 Machino, 21 Ueda