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Die Märkte in den USA, Großbritannien, Deutschland, China und Japan hatten dieses Jahr mit Turbulenzen zu kämpfen. Wird sich die wirtschaftliche Situation 2023 wieder erholen?
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USA: Ein Weg mit vielen Windungen

Eine drohende Zahlungsunfähigkeit steht im Raum. Der Tech-Sektor nimmt eine Rezession vorweg.

Dieses Jahr war nichts für US-Anleger mit schwachen Nerven. Nachdem der Dow Jones an der New Yorker Börse seit 2020 stetig nach oben geklettert war, drehte das Börsenbarometer im Jänner die Richtung und hat seither eine Reihe nervöser Ausschläge hingelegt. Die hohe Inflation und Rezessionsängste drückten es Ende September gar auf ein Zweijahrestief.

Ende der politischen Zitterpartie

Nach den Zwischenwahlen am 8. November scheinen sich die Märkte nun etwas beruhigt zu haben. Immerhin ist die politische Zitterpartie vorbei, und Anleger müssen keine Überraschungen mehr fürchten. Manchen von ihnen mag das Ergebnis – ein geteilter Kongress mit einer Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus und einer Mehrheit der Demokraten im Senat – sympathisch sein, da es extreme Ausschläge zu verhindern scheint. Tatsächlich ist in den verbleibenden zwei Amtsjahren von Präsident Joe Biden mit gewaltigen Ausgabenprogrammen wie den billionenschweren Corona-Hilfe-, Infrastruktur- und Klimapaketen wohl nicht mehr zu rechnen. Die Republikaner haben klargemacht, dass sie keinerlei Interesse daran haben, dem Präsidenten bei der Umsetzung seiner Agenda zu helfen.

Im Gegenteil: Sie dürften mit Untersuchungsausschüssen und Amtsenthebungsverfahren alles tun, um dem Mann im Weißen Haus möglichst viele Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Doch darin besteht auch eine riesige Gefahr für das Land und die Weltwirtschaft. Irgendwann im Frühjahr 2023 nämlich dürften die USA ihre Schuldenobergrenze erreichen. Im schlimmsten Fall droht Amerika dann die Zahlungsunfähigkeit wie in der Krise von 2011, als das drohende Debakel erst in buchstäblich letzter Minute abgewendet werden konnte, die Märkte aber trotzdem nach unten riss. Um eine solche dramatische Situation zu vermeiden, wollen die Demokraten den Schuldendeckel möglichst noch in der Amtszeit des alten Kongresses vor dem Jahreswechsel anheben. Ob das gelingt, ist unklar: Die Republikaner haben schon klargemacht, dass sie als Gegenleistung für eine Zustimmung harte Einschnitte ins soziale Netz verlangen werden.

Kursfeuerwerk

Für die Börsen dreht sich derweil alles um eine Frage: Wie weit wird die US-Notenbank Fed die Zinsen noch hochschrauben? Jedes Mal, wenn die Aktienmärkte in den vergangenen Monaten ein Ende der geldpolitischen Straffung in Sicht wähnten, zündeten sie ein Kursfeuerwerk. Doch jedes Mal erwies sich die Hoffnung als verfrüht. Fed-Chef Jerome Powell hat eine eindeutige Priorität: die Inflation bezwingen. Und aus ihrer Sicht ist das Ziel noch nicht erreicht, auch wenn sich die Dynamik der Preissteigerungen allmählich zu verlangsamen scheint. Im Oktober lag sie bei 7,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, während es im Frühsommer noch über neun Prozent waren. "Ermutigend" nannte selbst Ex-Finanzminister Larry Summers die Entwicklung, er hatte viel früher als andere vor den steigenden Preisen gewarnt.

Die Inflationsrate liegt aber noch immer weit über dem von der Notenbank angestrebten Ziel von zwei Prozent. "Die Rate ist noch nicht in einer Zone, die restriktiv genug ist", sagte zuletzt James Bullard, Präsident der St. Louis Federal Reserve, der Mitglied im Fed-Zinsentscheider-Gremium ist. Eine Pause auf der Zinsleiter sei "vom Tisch", erklärte auch Amtskollegin Mary Daly aus San Francisco deutlich.

Amerikaner shoppen sich durch die Krise

Je mehr sich die Finanzierungskosten für Unternehmen und Haushalte verteuern, desto stärker wächst das Risiko, dass die US-Wirtschaft in eine Rezession gerät und Powell das Ziel einer "sanften Landung" verfehlt. Bislang erweist sich die Konjunktur als bemerkenswert stabil. "Die Wirtschaft läuft deutlich besser als erwartet", sagt Ryan Sweet vom Forschungsinstitut Oxford Economics. Goldman Sachs geht davon aus, dass die USA kommendes Jahr knapp an der Rezession vorbeischrammen. Die Amerikaner machen ihrem Ruf als Konsumnation alle Ehre: Im Oktober sind die Einzelhandelsumsätze deutlich gestiegen. Viele Haushalte zehren immer noch von einem Finanzpolster, der Arbeitsmarkt ist immer noch "enger", als es der Fed lieb ist. Im September ist die Zahl der offenen Stellen wieder gestiegen. Viele Unternehmen zögern, Beschäftigte zu entlassen, nachdem ihnen der dramatische Personalmangel im Vorjahr das Geschäft erschwert hat.

Der Tech-Sektor nimmt den Abschwung schon vorweg: Amazon, Meta, Twitter und andere haben Massenentlassungen eingeleitet. Beobachter sprechen von einer "tech-cession". "Der Weg voran ist viel unsicherer als noch vor einem Jahr und wird wahrscheinlich einige Windungen nehmen", sagt Morgan-Stanley-Stratege Michael Wilson. (Karl Doemens aus Washington)

Großbritannien: Die Glaubwürdigkeit ist untergraben

Erleichterung über neue politische Stabilität und Besorgnis über Reformen – ein Schwebezustand.

Erhebliche Erleichterung, ernste Besorgnis – auf diesen Nenner lässt sich die Stimmung in der Londoner City bringen. Wie der Rest des Landes haben die Marktteilnehmer am wichtigsten internationalen Finanzplatz Europas heuer teils amüsiert, teils fassungslos das politische Chaos in der konservativen Regierung verfolgt.

Immer neue Enthüllungen über Lockdown-Partys in der Downing Street, die im Rücktritt von Premier Boris Johnson kulminierten; die parteiinterne Wahl der komplett ungeeigneten, wie eine ökonomische Analphabetin argumentierenden Liz Truss; deren schuldenfinanziertes Steuersenkungspaket mit der resultierenden Vertrauens- und beinahe auch Finanzkrise; schließlich Truss' Rücktritt nach 44 Tagen im Amt – da sah das seriöse, beinahe als ein wenig langweilig geltende Königreich plötzlich aus wie eine Bananenrepublik, freilich ohne Bananen oder Republikaner. An den Finanzmärkten musste das Land eine "Idiotengebühr" (moron premium) entrichten: Die Zinsen für die als eigentlich sicher gehandelten britischen Bonds schossen in die Höhe.

Hoffnung auf weniger turbulente Phase

Die Kür des früheren Finanzministers Rishi Sunak zum dritten Tory-Premier binnen vier Monaten lässt viele auf eine weniger turbulente Phase hoffen. "Endlich sind wieder zwei Erwachsene am Ruder", seufzt ein erfahrener City-Anwalt erleichtert und meint damit neben Sunak auch dessen Nachfolger im Finanzressort. Jeremy Hunt brachte kurz nach seinem Amtsantritt Mitte Oktober nicht nur Ruhe in die Bond- und Währungsmärkte, indem er alle geplanten Maßnahmen der Kurzzeitpremierministerin über Bord warf. Mit seinem Nachtragshaushalt im November signalisierte der erfahrene Politiker auch eine Rückkehr zu solider Finanzpolitik. Hunt muss den erheblichen Reputationsschaden kitten, den sein Vorgänger Kwasi Kwarteng im Schatzkanzleramt angerichtet hat. Gleichzeitig kämpft er mit denselben Verwerfungen der Weltwirtschaft, die auch andere große Volkswirtschaften beschäftigen: die Folgen der Corona-Pandemie wie Arbeitskräftemangel und Lieferengpässe, Russlands Überfall auf die Ukraine, die Energiekrise und die resultierende galoppierende Inflation.

Den düsteren Prognosen der Budgetbehörde OBR zufolge stehen den Briten bittere Monate ins Haus. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag dem nationalen Statistikamt zufolge bereits im dritten Quartal im Negativbereich; längst befindet sich das Land in einer Rezession, die laut OBR erst 2024 zu Ende gehen dürfte. Der Lebensstandard wird in diesem Steuerjahr bis April 2023 um 4,3 Prozent, im darauffolgenden Jahr nochmals um 2,8 Prozent sinken – der tiefste Fall, seit die Statistiker 1956 zu zählen begannen. Die Staatsschulden lagen Ende September bei 98 Prozent des BIP. Schon jetzt muss die Regierung statt 1,2 Prozent des BIP wie noch vor zwei Jahren nunmehr 4,8 Prozent des BIP lediglich für die Bedienung der fälligen Zinsen ausgeben.

Ökonomische Sorgen und Reformpläne

Mag die Politik auch in ruhigeres Fahrwasser geraten – die Volkswirtschaft befindet sich noch immer "im Sturm", wie Hunt gesagt hat. Zu der ökonomischen Besorgnis gesellen sich noch Reformpläne der Regierung. Zwar hat sich Hunt, anders als sein Vorgänger, ausdrücklich zur Unabhängigkeit der Zentralbank, der 328 Jahre alten Bank of England (BoE), bekannt. Schwelend bleibt jedoch ein Konflikt über die Rolle der Bankenaufseher.

Noch als Finanzminister hatte Sunak in der ersten Jahreshälfte eine Novellierung der City-Aufsicht ins Rollen gebracht. Der Gesetzesentwurf verpflichtet die Behörden FCA und PRA nicht nur, zusätzlich zum bestehenden Stabilitätsziel auch Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit des Finanzsektors im Auge zu behalten – eine weitgehend unumstrittene Änderung. Zusätzlich aber soll die Regierung zukünftig umstrittene Entscheidungen der Aufseher überprüfen und notfalls rückgängig machen können. Dieses Vorhaben stößt auf Widerstand, wie der kürzlich ins Amt gekommene Lord Mayor Nicholas Lyons deutlich gemacht hat. Unverblümt hat sich auch BoE-Vize und PRA-Chef Sam Woods zu Wort gemeldet: "Es würde unsere Glaubwürdigkeit untergraben, weil es die Finanzregulierung politischer macht."

Schon seit Monaten gibt es Streit zwischen Zentralbank und Schatzkanzleramt um eine liberalere Auslegung der Solva-II-Regeln, die Großbritannien nach dem EU-Austritt anstrebt. Während die Regierung auf freiwerdende Milliarden hofft, die große Pensionsfonds und Versicherungen in dringend nötige Infrastrukturprojekte investieren könnten, sorgen sich die Aufseher um die Finanzstabilität. (Sebastian Borger aus London)

Deutschland: Schwerer Start für den großen Dax

Der erneuerte deutsche Leitindex hat ein hartes erstes Jahr hinter sich. Für 2023 gibt es Hoffnung.

Es begann gut im Jänner 2022. Auf 16.271 Punkte kletterte der Dax am fünften Tag des Monats. Was man damals noch nicht wusste: Es war gleich zu Jahresbeginn der Höchststand, danach ging es bergab. Die von einigen Analysten vorausgesagten noch höheren Werte konnten nicht erreicht werden.

"Der Dax ist ein Abbild der Weltkonjunktur, und unser traditionelles Geschäftsmodell wurde von zwei Seiten angegriffen", sagt Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Frankfurter Baader Bank. Zum einen verfüge Deutschland nicht mehr "über grenzenlos günstige Energie", zum anderen seien die weltweiten Absatzmärkte ebenfalls eingebrochen.

Enttäuschte Hoffnungen

Das erste Jahr gestaltete sich also sehr schwierig für den neuen Dax. Er wurde im September 2021 vergrößert, zu diesem Zeitpunkt kamen zehn neue Unternehmen in den bislang von "Old Economy" (Autos, Chemie, Energie) geprägten deutschen Leitindex dazu. Seither ist nicht mehr vom Dax 30, sondern vom Dax 40 die Rede. "Grundsätzlich war die Verbreiterung richtig", sagt Halver. Denn: "In einer Pralinenschachtel mit 40 Stück findet man ja auch ein größeres Angebot und eher das Passende als in einer mit 30 Stück."

Doch konkret haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt. Die Neulinge, die die deutsche Wirtschaft in ihrer Breite besser abbilden sollten, schwächelten. Besonders hart traf es den Online-Modehändler Zalando und das Kochboxen-Start-up Hellofresh. Letzteres flog sogar wieder aus dem Leitindex und wurde vom Energietechniker Siemens Energy ersetzt. Nach Corona wollte man wieder real einkaufen und im Lokal sitzen. Doch es litten auch die zyklischen "alten" Automobilwerte. "Bessere Defensivqualitäten haben die eher braveren Werte wie die Telekom oder die Münchner Rück entwickelt", sagt Halver. Sein Ausblick auf 2023: "Das Schlimmste haben wir wohl hinter uns. Der Boden ist erreicht. Ich bin geläutert optimistisch."

Erwartetes Konjunkturminus

Viele Ökonomen sagen für Deutschland im kommenden Jahr ein Konjunkturminus voraus, wobei die Breite schwankt. So geht die OECD von minus 0,7 Prozent aus, das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln von minus 1,75 Prozent. Die Bundesregierung ist mit einem Minus von 0,4 Prozent vergleichsweise optimistischer.

"Es ist im Dax nicht gut gelaufen, die Neuzugänge gehören zu den Hauptverlierern", sagt auch Sven Streibel, Chef-Aktienstratege der DZ Bank in Frankfurt. Und das Umfeld bleibt weiter schwierig. Dennoch blickt er nicht völlig pessimistisch auf 2023 und traut dem deutschen Leitindex gegen Jahresende hin einen Höchststand von 15.000 Punkten zu. Streibel sagt jedoch auch: "Ich glaube nicht, dass wir im kommenden Jahr die alten Allzeithochs an der Börse erreichen, denn dafür bräuchten wir ein exorbitantes Wachstum und einen externen Schub." Dies aber sei nicht zu sehen – immerhin aber, "dass die alten Belastungen zurückgehen".

"Alte" deutsche Werte zählen nach wie vor

Vorsichtiger Optimismus sei schon angebracht, da nach jeder Krise und Rezession auch wieder ein Aufschwung folge. Streibel: "Und da gibt es bei den etablierten deutschen Großunternehmen Nachholbedarf." Zyklische Titel diverser "alter" deutscher Werte wie Automobile oder Banken dürfe man keineswegs abschreiben. Streibel: "Diese brauchen wir im täglichen Leben, sie haben weiterhin ihre Existenzberechtigung."

Man solle trotz der schwierigen Bedingungen die Chancen von Aktien nicht unterschätzen, erklärt Halver von der Baader Bank. Denn auch wenn die Zinsen ansteigen würden, so bleibe doch das Problem der überkompensierend hohen Inflation. Halver: "Zinssparen ist ja derzeit noch unattraktiver als am Jahresanfang 2022." Und Streibel betont: "Ertragsstärke bleibt eine Schlüsselauswahl bei der Aktienauswahl."

Streitpunkt Spitzensteuersatz

Wie sich die Wirtschaftspolitik der deutschen Ampelregierung 2023 entwickeln wird, ist unklar. Angesichts der vielen finanziellen Belastungen, die der Staat bei den Bürgern ausgleichen muss, würden SPD und Grüne schon über eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes nachdenken. Aber die FDP ist strikt dagegen.

Vor kurzem hat auch der Sachverständigenrat, der die Regierung berät, dafür plädiert, den Spitzensteuersatz befristet anzuheben. Doch Finanzminister Christian Lindner (FDP) beruhigte die Wirtschaftsverbände umgehend per Brief. Es werde dazu nicht kommen. Denn: "Zusätzliche Belastungen verschärfen das Risiko einer Rezession und schwächen den Wirtschaftsstandort Deutschland strukturell." (Birgit Baumann aus Berlin)

China: Große Hoffnungen im Reich der Mitte

Ein baldiges Ende der Zero-Covid-Politik sollte die Wirtschaft pushen. Darauf setzen auch Investoren.

Das Börsenjahr fiel so ziemlich auf der ganzen Welt mies aus, in China aber war es besonders deprimierend. Der breit gefasste Hang-Seng-Index notierte noch vor einem Jahr bei 25.000 Punkten, im Tief vor einigen Wochen waren es nur noch 15.000 Zähler. Alibaba, Onlineshopping-Gigant auf dem Festland und einstiger Börsenliebling, fiel von über 160 US-Dollar auf knapp 60 Dollar im Tief. Auch Tencent, der zweite große Tech-Gigant aus China, der hinter der Allround-App Wechat steckt, sieht nicht viel besser aus.

Hoher Preis der Zero-Covid-Politik

Möglich, dass die Kursrückschläge auch die Folge von Übertreibungen und Panikverkäufen sind. Die grundsätzliche Richtung aber deckt sich mit dem gesamtwirtschaftlichen Bild. Der hohe Preis der Zero-Covid-Politik des Landes zeigt sich nun immer deutlicher. Immer wieder werden Millionenstädte stillgelegt, weil die Zahl der Corona-Neuinfektionen zu schnell ansteigt. Derzeit sind die Metropolen Guangzhou und Chongqing davon betroffen. Vor allem bei Guangzhou am Perlflussdelta sind zahlreiche Fabriken geschlossen. In Zhengzhou in der Provinz Henan stand kürzlich auch die Produktion von iPhones einige Wochen still. All das wirkt sich auf die Konjunktur aus: Nur 2,9 Prozent wird die chinesische Wirtschaft dieses Jahr wachsen, so eine Schätzung der Weltbank. Onlineshopper Alibaba veröffentlichte dieses Jahr erstmals keine Zahlen zum "Singles’ Day" – normalerweise ein Tag der Spitzenumsätze. Wie schlecht es um die chinesische Wirtschaft derzeit steht, zeigt auch die Inflation. Während in den USA und Europa hohe Preissteigerungen die Konsumenten plagen, was die Zentralbanken wiederum die Zinsen erhöhen lässt, kennt man in China dieses Problem derzeit nicht: Während die Konsumentenpreise im Oktober um 2,1 Prozent gestiegen waren, fielen die Erzeugerpreise sogar. Kredite werden kaum nachgefragt.

Immobilienkrise

In China kommen aber noch weitere Risiken hinzu: Seit über einem Jahr schwelt die Immobilienkrise. Der Riesenkonzern Evergrande ist faktisch pleite und wird nur durch die Regierung künstlich am Leben erhalten. Ein Flächenbrand soll so verhindert werden. Der Ausgang des Experiments ist noch immer ungewiss. Die Baubranche ist für bis zu 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung verantwortlich.

Als ob es damit noch nicht genug wäre, drohen gerade bei den Tech-Konzernen weitere Eingriffe seitens der Politik. Präsident Xi Jinping, der gerade auf dem Parteikongress im Oktober seine Macht zementierte, greift immer stärker in die Wirtschaft ein, weil ihm die Macht von Alibaba und Tencent nicht geheuer ist. Und schließlich drohen auch noch geopolitische Unruhen: Die Taiwan-Krise und das Risiko einer militärischen Invasion auf der Insel durch Peking waren dieses Jahr so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Auch das im Oktober von der Biden-Administration verhängte Chip-Embargo trifft chinesische Tech-Unternehmen hart.

Kein Wunder also, dass ausländische Investoren 2022 ihr Kapital lieber aus dem Festland abzogen. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres haben nichtchinesische Händler Aktien im Wert von sechs Milliarden US-Dollar verkauft – so viel wie seit 2014 nicht mehr, dem letzten großen Börsencrash auf dem Festland.

Große Hoffnungen für das neue Jahr

2023, so könnte man vermuten, kann eigentlich nur besser werden. Es gibt mittlerweile eine starke Divergenz zwischen chinesischen Aktien und den globalen Märkten. Während der Schanghaier CSI-300-Index gerade einmal drei Prozent höher steht als Ende 2019, notiert der amerikanische S&P 500 mehr als 30 Prozent im Plus. So gesehen besteht trotz zahlreicher Risiken Nachholbedarf an der chinesischen Börse. Einige Fondsmanager scheinen die Wette bereits einzugehen: Laut einer Umfrage der Bank of Asia plant die Mehrheit der institutionellen Investoren, China in den kommenden zwölf Monaten überzugewichten.

Erste Hoffnungsschimmer konnte man vor kurzem sehen: Anfang November kam es zu einer Rally, die Hoffnung weckt, dass das Schlimmste vielleicht schon vorüber ist. Als Gerüchte die Runde machten, China werde langsam seine Zero-Covid-Politik beenden, schnellte der Hang-Seng-Index um zehn Prozent an einem Tag nach oben. Eine große Wiedereröffnungsparty wird es aber wohl nicht geben: Frühesten im März kommenden Jahres rechnen Experten mit ersten Lockerungen. Sollten dann Weltkonjunktur, Energiepreise und Geopolitik mitspielen, könnten Investoren in chinesischen Aktien tatsächlich so etwas wie eine Rally sehen. (Philipp Mattheis)

Japans eigener Weg wird belohnt

Eine niedrige Inflationsrate und staatliche Hilfen haben japanische Aktien unterstützt.

Der japanische Aktienmarkt hat heuer relativ geringe Blessuren davongetragen. Der Leitindex Nikkei 225 lag Mitte November nur vier Prozent unter dem Niveau vom Jahresanfang, der breit gefasste Topix mit den 2200 wichtigsten Unternehmen verlor seit Anfang Jänner rund drei Prozent. Damit schnitt Japan besser ab als der weltweite Aktienindex MSCI World und der Dow Jones. Allerdings war der japanische Markt in den Vorjahren gegenüber US-Aktien weit zurückgefallen. 2022 schrumpfte dieser Abstand zunächst stark, nahm jedoch mit der Erholung an der Wall Street zum Jahresende wieder zu.

Jedoch fiel Japan auf spezielle Weise aus dem Rahmen: Anders als die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank verweigerte sich die Bank of Japan dem Trend zur Straffung der Geldpolitik und Erhöhung der Zinsen. Zwar kletterte Japans Inflationsrate im Herbst auf ein langjähriges Hoch von drei Prozent, aber im Vergleich zur EU und den USA hielt sich die Teuerung in Grenzen. Daher konnte Japans Zentralbank den Leitzins weiter bei minus 0,1 Prozent halten und die Rendite von zehnjährigen Staatsanleihen um null Prozent herum fixieren.

Historisches Tief

Allerdings schwächte der hohe Zinsabstand von vier Prozentpunkten zwischen japanischen und US-Staatsanleihen auf dramatische Weise die japanische Währung: Seit Jahresanfang verlor der Yen rund ein Viertel seines Werts zum Dollar. Der effektive Wechselkurs des Yen gegenüber einem Währungskorb sank gar auf ein historisches Tief. Der schwache Yen verteuerte japanische Importe von Lebensmitteln, Brennstoffen und Zulieferteilen für die Produktion zusätzlich zu den globalen Preiserhöhungen für Rohstoffe und Materialien.

In der Vergangenheit profitierten die Aktien vieler Exporteure wie Panasonic und Toyota von einer Abwertung der Heimatwährung, weil die Auslandseinnahmen bei der Rückholung nach Japan zunehmen, wenn man sie in Yen bilanziert. Doch diese klassische Verbindung zwischen Wechselkurs und Ertrag hat sich abgeschwächt, weil viele Exporteure ihre Produktion von Autos, Elektronik und Industrieanlagen ins Ausland verlagerten. Früher nahmen die Gewinne in Yen im Wechselkurs zum Dollar um ein Prozent zu. Heute verdienen die Firmen laut Schätzung des Brokers Daiwa dadurch nur noch 0,4 Prozent mehr.

Dennoch stieg die Vorsteuergewinnmarge der Unternehmen laut John Vail, Aktienstratege beim Vermögensverwalter Nikko AM, im Vierquartalsdurchschnitt auf ein Rekordhoch. Ein wichtiger Grund: Erstmals seit vielen Jahren konnten viele Unternehmen auf ihrem Heimatmarkt höhere Preise durchsetzen, weil die Konkurrenten diesmal mitzogen. Dadurch kletterten die Verdienstmargen nach oben. Die Gewinnschwelle von großen Unternehmen mit mehr als sieben Millionen Euro Eigenkapital sank nach einer Berechnung von Morgan Stanley auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren.

Regierung unterstützt Konjunktur

Die japanische Notenbank konnte trotz des schwachen Yen an ihrer ultralockeren Geldpolitik festhalten, weil die japanische Regierung am Devisenmarkt mehrmals intervenierte. Dadurch wurde der Absturz der Währung gestoppt. Zugleich schnürte Premierminister Fumio Kishida mehrere Konjunkturpakete mit direkten Preissubventionen für Benzin, Diesel, Gas und Strom. Auf diese Weise begrenzte Kishida die Wirkung des schwachen Yen auf die Teuerung. Regierung und Zentralbank handelten im Tandem, weil die japanische Wirtschaft höhere Zinsen nur schwer verkraften kann: 70 Prozent aller Bankkredite in Japan laufen mit einem Zinssatz von weniger als einem Prozent – substanziell höhere Kreditraten würden eine Insolvenzwelle auslösen, erklärt der Japan-Ökonom Richard Katz.

Japanische Aktien waren heuer ungewöhnlich preiswert. Im Sommer wurde der Topix mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis deutlich unter seinem Zehnjahresschnitt bewertet. Dennoch stießen ausländische Investoren in den ersten neun Monaten unterm Strich japanische Titel ab. Japan ist ein besonders liquider Markt, sodass bei Unruhe am Finanzmarkt schnell viel Auslandskapital abfließt. Zugleich beschleunigte die starke Abwertung des Yen die Verkäufe, da viele Investoren in Dollar rechnen und ihre Verluste begrenzen wollten. Parallel steigerten die 500 wichtigsten Unternehmen in Japan ihre Aktienrückkäufe in ungewöhnlich großem Umfang und glichen damit den Rückzug der Ausländer größtenteils aus. Die Analysten von NLI Research erwarten für das bis Ende März 2023 laufende Geschäftsjahr, dass die Rückkäufe den bisherigen Jahresrekord von acht Billionen Yen (55 Milliarden Euro) übertreffen werden. Viele ausländische Profis erwarben daher gezielt Aktien von Unternehmen, die eigene Anteilsscheine zurückkaufen. (PORTFOLIO, Martin Fritz aus Tokio, 22.12.2022)