Georg Brasseur vergleicht Leugner des Klimawandels mit der Tabakindustrie in den 1960er-Jahren.
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STANDARD: Zynisch gefragt: Ist das einzig ansatzweise Positive am Ukraine-Krieg, dass wir gezwungen sind, Energie zu sparen?

Brasseur: Dieser Krieg ist schrecklich, da gibt es nichts zu diskutieren. Dass wir zum Sparen angehalten sind, wird aber auch unser Bewusstsein verändern. Bisher war Energie immer dann da, wenn wir sie brauchten. Steigen wir um auf volatile Primärenergie wie Wind und Sonne, ist Energie nur da, wenn wir sie von der Natur bekommen. Wir müssten uns also anpassen – so eine Verhaltensänderung wollen Menschen nicht. Der Druck wird massiv steigen, aus Wind und Sonne schnell speicherbare Energieträger herzustellen.

STANDARD: Kann das gelingen?

Brasseur: Nicht im benötigten Ausmaß. Europa war nicht energieautonom und wird es auch in Zukunft nicht sein. 2019 wurden auf dem ganzen Kontinent 58 Prozent der Energieprodukte importiert. Um das mit grüner Energie zu kompensieren, würden wir 110-mal so viel Photovoltaikfläche wie heute brauchen. Das entspräche der Fläche von Rumänien. Oder wir müssten 36-mal so viele Windräder aufstellen. Allein diese Zahlen zeigen, dass das nicht geht – rechtlicher oder gesellschaftlicher Widerstand noch exklusive.

STANDARD: In Österreich zumindest stammen bereits 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen. Ist das nichts wert?

Brasseur: Schon. Aber die meisten vergessen, dass Stromverbrauch oft mit Primärenergiebedarf verwechselt wird. Etwa fürs Heizen, Industrie, Verkehr etc. Dieser Bedarf ist fünfmal höher. Für eine richtige Energiewende müsste alles umgestellt werden, so viel Strom können wir nicht produzieren. Durch bessere Wärmedämmungen oder optimierte industrielle Prozesse sind aber immerhin gute Einsparungen möglich.

STANDARD: Wasserstoff wird viel Potenzial nachgesagt. Kann es damit gehen?

Brasseur: Für die Stahlproduktion, Zement- und Chemiewerke sowie für viele andere industrielle Prozesse wäre Wasserstoff eine gute Alternative. Um Wasserstoff herzustellen, braucht es große Mengen an grünem Strom und Speicher. Es muss gesichert sein, dass die Energie aus Wind- und Solarparks ausreichend Wasserstoff erzeugt, der in unterirdischen Kavernen zwischengespeichert wird, um ihn der Industrie zur Verfügung zu stellen.

"Woher sollen wir genug Strom nehmen, um E-Autos sinnvoll zu betreiben?"
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STANDARD: Verkehr verursacht viele Treibhausgase, die Zahl der E-Autos nimmt zu, wenn momentan auch hauptsächlich durch Firmenwagen. Kann sich das in Zukunft ändern?

Brasseur: Woher sollen wir genug Strom nehmen, um E-Autos sinnvoll zu betreiben? Es ist unverantwortlich von der Politik, ein System durchsetzen zu wollen, von dem klar ist, dass der Vollausbau nicht funktionieren kann, und das die Energiewende verzögert, da mehr Stromverbraucher ans Netz kommen, als grüne Kraftwerke gebaut werden. E-Autos werden genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. Ein unkontrollierter Zugang zu allen geplanten Ladestationen würde das Netz zusammenbrechen lassen. Mehr Elektrofahrzeuge bedeuten außerdem wieder mehr Abhängigkeit von China, das möchte schließlich auch niemand. In Nischen wird es E-Fahrzeuge geben, aber nicht in der breiten Masse.

STANDARD: Also am Verbrenner festhalten?

Brasseur: Unbedingt. Der hohe Wirkungsgrad eines E-Autos kommt vom elektrischen Antriebsstrang, nicht von der Batterie. Das wird leicht vergessen. Die Mitnahme der Energie muss von Kraftstoffen kommen, die eine höhere Energiedichte haben als Batterien. In Schwellen- und Entwicklungsländern könnte das Konzept E-Auto noch weniger funktionieren als in Industrieländern. Deren Stromversorgung im Land ist viel zu gering, und diese Länder brauchen Strom genauso zur Defossilisierung der Wirtschaft und Haushalte. Ohne transportfähige Energieträger geht es nicht, und das sind eben Kohlenwasserstoffe wie Diesel, Benzin, Petroleum, Methanol oder Methan. Wir können es uns nicht leisten, eine parallele Welt für neue Energieträger aufzubauen, weil die Errichtung neuer Energievektoren viel mehr fossiles CO2 freisetzt als im Endeffekt eingespart würde.

STANDARD: Die Regierung hat den Ausstieg aus Öl und Gas beschlossen, können wir diese beiden Rohstoffe für unsere Heizsysteme kompensieren?

Brasseur: Der Ausstieg aus Öl ist wichtig und richtig. Aus Gas rauszugehen, finde ich wenig sinnvoll. Gas ist der am einfachsten synthetisch herzustellende Energieträger und setzt in einem Kraftwerk bei gleicher freigesetzter Energiemenge im Vergleich zu anderen fossilen Energieträgern deutlich weniger CO2 frei. Außerdem gibt es in Europa für Methan bereits gut ausgebaute Speicher und Transportsysteme. Die Energiewende kann nur gelingen, wenn über Jahrzehnte fossile Energieträger mehr und mehr durch synthetische mischbare Kraftstoffe ("drop-in fuels") ersetzt werden. Bei den gegenwärtigen Kraftstoffen passiert das ja bereits.

STANDARD: Das bringt uns aber wieder zum Problem der nicht ausreichenden Stromproduktion in Europa.

Brasseur: Deswegen sollte grüne Energie auch dort hergestellt werden, wo sie gut "geerntet" werden kann. Die gleichen Solarzellen würden bei gleichem Ressourceneinsatz etwa in Nordafrika oder Australien zwei- bis dreimal so viel Energie erzeugen wie in Mitteleuropa. Baut man Kraftwerke in wirtschaftlich schwachen Regionen, entstehen neue Arbeitsplätze, die den lokalen Wohlstand steigern. Ein Teil der gewonnenen Energie muss im Land bleiben, um den wachsenden Energiebedarf der Bevölkerung zu decken.

STANDARD: Die Idee klingt nach modernem Kolonialismus.

Brasseur: Das darf auf keinen Fall passieren. Es braucht gut geregelte, friedenssichernde Standortverträge. Staaten werden die Energiewende nicht selbst finanzieren können. Sie brauchen Risikokapitalgeber, die nur dann große Summen investieren, wenn es Rechts- und Planungssicherheit für Jahrzehnte gibt. Nur die Politik kann diese Rahmenbedingungen schaffen. Die Wahl der gegen die Klimakrise am besten geeigneten Energieträger sollte die Politik der Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft überlassen. Man kann der Politik nicht fehlendes Fachwissen vorwerfen, sehr wohl aber die Ignoranz, sich in Technologiefragen einzumischen, ohne die eigene Unzulänglichkeit zu erkennen und dadurch vieles zu blockieren.

STANDARD: Sind die Pariser Klimaziele noch zu erreichen?

Brasseur: Den Temperaturanstieg unter 1,5 Grad zu halten, können wir vergessen. Wahrscheinlich ist auch die Begrenzung auf zwei Grad unrealistisch. Zwischen 1,5 und zwei Grad wird es vielen Studien und Klimaforschern zufolge unumkehrbare Klimaänderungen geben, die für große Teile der Menschheit bedrohlich sind. Wenn die Polkappen abschmelzen, steigt der Meeresspiegel so stark an, dass die Heimat von Milliarden Menschen unter Wasser stehen wird, was zu nie dagewesenen Fluchtbewegungen führt. All das hat bereits begonnen, das lässt sich nicht leugnen.

STANDARD: Machen aber viele ...

Brasseur: Ja, leider. Das erinnert mich an die Tabakindustrie in den 1960er- und 1970er-Jahren. Dass Rauchen schädlich ist, haben Zigarettenhersteller damals genau gewusst und es heruntergespielt. Man müsse mehr forschen, es gebe zu wenig Studien etc. Bevor man das nicht genau wisse, passiere erst mal nichts. Beim Klimawandel ist es genauso. "Kann sein, dass der Klimawandel menschengemacht ist, aber genau weiß man es nicht", man soll weiterforschen, bis Beweise vorliegen. Solange es die nicht gibt, ist es besser abzuwarten, lautet der Tenor bei vielen. Es gibt unwiderlegbare Grafiken zu den CO2-Emissionen, die Millionen Jahre in die Vergangenheit zeigen. Graphen zeigen wellenförmige Schwankungen der Emissionen mit Zeitkonstanten von bis zu hunderttausenden Jahren, und seit hundert Jahren zeigt die Linie nahezu senkrecht nach oben.

STANDARD: Müssen wir uns also von der Energiewende verabschieden?

Brasseur: Nein, nicht unbedingt. Aber es braucht global einen politischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Kraftakt, wie es ihn noch nie gegeben hat. Auf Europaebene wird es bis zur geplanten vollständigen Defossilisierung der Energie im Jahr 2050 jährliche Investitionen in gewaltiger Höhe brauchen, die kaum vergleichbar sein werden mit jenen in der Höhe von 320 Milliarden Euro, die die EU-28 2019 für den Import von Energieprodukten ausgegeben haben. (Andreas Danzer, 3.1.2023)