Max Rieger (links) und Die Nerven gastieren am Mittwoch und Donnerstag in Wien und Salzburg.

Foto: Lucia Berlanga

Neben der Berliner Band Gewalt um Patrick Wagner gelten Die Nerven derzeit als wichtigste und allseits akklamierte deutsche Gitarrenband im Lande des Lärms. Nach Jahren im wohlgefälligen Lalelu des säuselnden Indie-Pop gilt Noise ja mittlerweile wieder als notwendiger Bestandteil einer widerständigen Haltung. Niemand wird dir sonst zuhören. Wenn es darum geht, textliche Dringlichkeit mit musikalischer Heftigkeit zu verschweißen, kann dem ursprünglich aus Stuttgart kommenden Trio mit Max Rieger als Zentralgestirn kaum jemand das Wasser reichen.

Ihr aktuelles, selbstbetiteltes Album Die Nerven mag zwar etwas sanfter daherkommen als frühere Releases. Nach wüsteren und die Boxen zum Rauchen bringenden Arbeiten wie Fake oder Fun aus den Zehnerjahren weist das Album mit einem Cover, das einen schwarzen Altdeutschen Schäferhund auf schwarzem Grund zeigt, nun einen gewissen Drang zum musikalischen Alleinstellungsmerkmal auf. Das ist in einem seit Jahrzehnten bestens durchdeklinierten Genre, in dem sich bleierne Schwere mit Wut, Verzweiflung und zum Vandalismus neigender Musikalität vermischt, allerdings nicht einfach zu erreichen.

Die Nerven

Immerhin ist man am Postpunk der 1980er-Jahre geschult. Man kennt die quengelnden und eiernden Gitarrenschlieren etwa von Sonic Youth ebenso wie Die Nerven mit viel Hall auf der Klampfe auch bei altvorderen britischen Düsterbands wie Public Image Ltd., Siouxsie and the Banshees oder Killing Joke wildern. Die Referenzhölle wird allerdings durch ein gerüttelt Maß an Pathos und einen Zug zur getragenen Melodie abgemildert.

Das ergibt in Songs wie Ich sterbe jeden Tag in Deutschland oder Keine Bewegung oft Momente, die auf eine andere deutsche Band verweisen. Diese hat zumindest im deutschsprachigen Raum während der 1990er-Jahre eine gewisse Vorreiterrolle für sich in Anspruch genommen. Jochen Distelmeyer und Blumfeld ackerten sich im besagten Spannungsfeld mit eher universitären statt wie bei Die Nerven im Alltag geschulten Texten in der sogenannten Hamburger Schule ab, bevor sie den Blue-eyed Soul im deutschen Schlager entdeckten.

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Speziell im Nerven-Stück Europa, das ein wenig visionär den heutigen miserablen Zustand des Kontinents beschwört, wird das mit seinem Zupfgitarrenintro und dem ab der Mitte einsetzenden Geschredder deutlich: "Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie."

Apropos Dystopie und Europa: In Ganz Egal mit seinem bewusst etwas verhatscht angelegten, klassisch-britischen Schunkel- und Torkelrhythmus wird auch für andere Säulenheilige der Szene ein Gedächtniskerzerl angezündet. Zu gestrampften Gitarrenakkorden rutscht Max Rieger auf den Knien zum Altar von Joe Strummer und The Clash und deren London Calling. Damals im Kalten Krieg war der Weltuntergang schon vorbei, jetzt kommt er wieder: "Ich dachte mir, zur Hölle mit meinen Privilegien – und jetzt bin ich dankbar, dass ich welche hab."

Es wird laut

Damit die Sache nicht allzu schwer und ernst wird, findet man auf dem mittlerweile fünften Studioalbum eine Ballade sowie zum Kehraus einen Trauermarsch, Ein Influencer weint sich in den Schlaf und 180°. "Nichts wird mehr, wie es einmal war, das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen", trifft auf: "Der Tod läuft nicht gut auf Instagram, Baby, gib mir deine Hand." Ja doch, ein wenig tocotroniceln tut es dann auch noch. Allerdings in laut. (Christian Schachinger, 22.11.2022)