Maren (Taylor Russell) ist auf der Suche nach den Ursprüngen einer anstößigen Konditionierung: Die kannibalistische Schnitzeljagd führt quer durch den Mittleren Westen. Begleitet wird sie von Lee (Timothée Chalamet).

Foto: Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc

Kannibalismus ist von allen Verstößen gegen die Mitmenschlichkeit wohl einer der anstößigsten. Fleisch zu essen ist ohnehin schon vielfach verpönt, und dann auch noch das der eigenen Gattung! Okay, es gibt perverse Genießer wie Hannibal Lecter, und vor noch nicht so langer Zeit konnte man auch noch ab und zu rassistische Karikaturen sehen, auf denen weiße Menschen irgendwo in Afrika in einem Kessel gesotten wurden. So richtig kannibalisch ist der Kannibalismus aber erst, wenn sich darin das Tier im Menschen zeigt. Wie in dem Film Bones and All von Luca Guadagnino.

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Die menschenfressenden Menschen, die da zu sehen sind, halten sich mit Zubereitung nicht lang auf. Sie schlagen ihre Zähne in das Fleisch, als ginge es um ihre letzte Mahlzeit, als fräßen sie um ihr Leben. Und so ist es ja auch: Maren und Lee (und der sinistre Sully) müssen von Zeit zu Zeit ihrem Nahrungstrieb Genüge tun. Sie gehören zu einer heimlichen Minderheit, vergleichbar den Vampiren. Mit ihrem Kannibalismus geht allerdings kein Privileg einher, sie sind nicht unsterblich und stehen dem täglichen Leben nicht aus einer Perspektive tragischer Ewigkeit gegenüber. Sie sind nur einfach noch radikalere Außenseiter, als sie es als Jugendliche im heutigen Amerika ohnehin schon sind.

Mit Knochen und allem

Maren (Taylor Russell, davor zu sehen in dem spannenden Waves von Trey Edward Shults) lebt mit ihrem Vater in einem Quartier, das nicht gerade danach aussieht, die besten Bedingungen für ein stabiles Leben zu bieten. Sie ist eine junge schwarze Frau, die gleich einmal die erste Einladung, an einem neuen Ort Freundschaften zu schließen, gründlich verdirbt, indem sie einem Mädchen den Finger abbeißt. Und zwar "bones and all", mit Knochen und allem. Nur die Fleischindustrie ist brutaler, die macht aus Kochen noch Mehl und verfüttert es wieder an Tiere.

Fleischkonsum

Kannibalismus ist, wie im Grunde jeder Fleischkonsum, auch wenn es noch so gut schmeckt, eine unappetitliche Sache. Nach der Sache mit dem Finger bleibt nicht viel mehr als die Flucht. Der Vater büchst aber dieses Mal selbst aus, er lässt Maren mit einem Tonband zurück, auf dem sie ihre Geschichte erfährt – und mit dem sie ihre Mutter suchen kann. Die hütet zwar nicht das Geheimnis von Marens spezieller Konditionierung, aber sie kann vielleicht zumindest eine Ahnung davon vermitteln, warum sie so ist, wie sie ist.

Eine passende Begleitung auf ihrer Fahrt quer durch den Mittleren Westen Amerikas (jeder neue Bundesstaat wird mit einem Kürzel benannt, man kann also ein bisschen Schnitzeljagd mit den Resten von Wissen aus dem Geografie-Unterricht betreiben) findet sie in dem schlaksigen Lee (Timothée Chalamet, der vor allem durch Guadagninos Call Me By Your Name berühmt wurde). Der trägt die zerfetztesten Jeans, die gerade noch irgendwie als Hosen durchgehen, und ist auch sonst ein verwegener Typ.

Im Sog der Gegenromantik

Wenn man manchmal von wilden Tieren sagt, dass sie ihre Beute reißen, dann ist auch Lee ein Reißer. Mit diesem Paar ist alles bereitet für ein schönes Roadmovie auf den Spuren vergleichbarer Außenseitermythen – Kathryn Bigelows Near Dark oder Andrea Arnolds American Honey könnten einem einfallen, an die herzzerreißende amerikanische Gegenromantik von Near Dark reicht Bones and All dann allerdings doch nicht ganz heran. Guadagnino ist einer der großen Regisseure der (immer auch latent oder offen queeren) Adoleszenz im heutigen Kino.

Seine Serie We Are Who We Are fand auf einer amerikanischen Militärbasis in Italien ganz ähnliche Figuren wie nun Maren und Lee, bedurfte also nicht der schon in der Romanvorlage zu Bones and All vom Camille DeAngelis ein wenig in der Luft hängenden rätselhaften und schockierenden Disposition, um ein intensives Porträt von Adoleszenz zu entwerfen.

Ewiger Huckleberry Finn

Mit Mark Rylance in der Rolle des Sully hat Bones and All zum Glück einen der interessantesten "Schurken" seit langem: eine Figur, die nach Äonen von Einsamkeit streng riecht und sich eine der schrägsten Selbstinszenierungen ever zugelegt hat (halb Indianerhäuptling, halb ewiger Huckleberry Finn). Das mit dem Kannibalismus sollte man nicht zu ernst nehmen (oder eben so ernst, wie es ein Schock sein soll), dann kann man mit Bones and All eine gute Zeit haben.

Übrigens auch eine Zeitreise, wie nicht zuletzt der Soundtrack verrät: von Joy Division bis New Order. Denn das ist Guadagnino ja auch: ein Pop-Enzyklopädiker, der sich nimmt, was ihm gerade passt, oder der immer das Pop-Zitat findet, das tatsächlich gerade passt. Hipsterkino auf der Suche nach wahren Gefühlen. (Bert Rebhandl, 23.11.2022)