Als wir vor der Firmenzentrale von Junghans in Schramberg, etwa eine Autostunde von Stuttgart entfernt, aus dem Taxi steigen, fallen die ersten Regentropfen aus dem mit dunklen Wolken verhangenen Himmel. Ein Windstoß fährt in die mächtigen Tannen des Schwarzwalds.

Einzigartig

Vor dieser Kulisse wirkt der Terrassenbau, der neun Stockwerke vor uns den Hang hinaufklettert, noch beeindruckender: Ein Denkmal der deutschen Industriearchitektur und als solches geschützt. "Angelegt in Ost-West-Ausrichtung konnten die Uhrmacher das Tageslicht optimal nutzen", erklärt Thomas Fiedler, Brand Manager von Junghans, die spezielle stufenförmige Bauweise, während wir in der Kantine unser Mittagessen einnehmen ("Schwäbische Linsen", für alle kulinarisch Interessierten). Dem gleichen Gedanken folgen etwa die Bauten in den historischen Uhrenstädten der Schweiz. Aber der Terrassenbau ist einzigartig und atmet deutsche Industrie- und Uhrengeschichte.

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Der Terrassenbau in Schramberg: Auf den Dächern und den Wänden ist noch der Tarnanstrich aus dem Weltkrieg zu sehen. Der musste bleiben – Denkmalschutz. Dem nunmehrigen Museum vorgelagert, sind jene Gebäude wo heute die moderne Fertigung stattfindet.
Foto: Getty Images/Matthias Hangst

Fiedler führt durch das im Ersten Weltkrieg, 1918, in Rekordtempo fertiggestellte Gebäude, das originalgetreu renoviert wurde. Er erzählt von der aufwändigen Instandsetzung, erklärt dieses und jenes Detail und weist schließlich auf die aufgedruckten Bordüren, die die Wände des Stiegenhauses zieren: "Die mussten alle noch ein zweites Mal aufgebracht werden", schildert er amüsiert: Sie waren den Denkmalschützern beim ersten Durchgang zu regelmäßig vorgekommen und damit nicht der damaligen Zeit entsprechend. Insgesamt zwei Kilometer Bordüre mussten neu und näher am Original per Hand nachgetupft werden. Das nennt wohl man deutsche Gründlichkeit.

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Die berühmt-berüchtigte Bordüre im Stiegenhaus.
Foto: Getty Images/Matthias Hangst

Aus Denkmalschutzgründen gibt es auch keinen Lift im Inneren, man fährt mit einem außen angebrachten Schrägaufzug ins oberste Stockwerk des Gebäudes. Ein Vorteil: Dabei hat man einen schönen Ausblick auf die Stadt. Seit 2018, nach Jahrzehnten des Leerstands, beherbergt der Bau ein Museum. Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Wirtschaftsgeschichte der Gegend. Von 1730 an wurde die Herstellung von Wanduhren zu einem wichtigen Gewerbe im Schwarzwald: So viele Kuckucksuhren auf einen Haufen haben wohl die wenigsten in ihrem Leben je gesehen – und gehört. Es gibt sie in allen möglichen Ausführungen von ganz simpel bis ganz komplex. Viele davon echte Kunstwerke, das muss man bei allen Vorbehalten gegen diesen altvatrischen Uhrentypus unumwunden zugeben.

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Zahlreiche Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald aus allen Epochen sind in der Ausstellung zu bewundern.
Foto: Getty Images/Matthias Hangst

Matthias Stotz, seit 2007 Geschäftsführer von Junghans, meint dazu bei unserem Teams-Call ein paar Tage später schmunzelnd: "Im Schwarzwald ist das Wort Kuckucksuhr schon fast ein Schimpfwort." Aber wenn man sich die Ausstellung ansehe, dann bekomme man einen Eindruck davon, welche Qualität dahintersteckt, welcher Entwicklungsdrang und dass man schon früh sehr exportorientiert gewesen sei, hält er fest. Man sieht, wie hier in Baden-Württemberg eine Industrie entstand und wo die Firma Junghans, deren Geschichte im Museum natürlich auch Platz eingeräumt wurde, ihre Wurzeln hat. Die reichen viel weiter zurück als das Baujahr des Terrassenbaus. Bis ins Jahr 1861.

In einer Liga mit Omega und Rolex

Gegründet wurde sie von Erhard Junghans. Zunächst wurden Teile für Schwarzwälder Großuhren gefertigt, später eigene Uhren. 1903 ist das Unternehmen mit 3.000 Beschäftigten der größte Uhrenhersteller der Welt – bekannt vor allem für seine Wecker und Wanduhren. Drei Millionen Uhren fertigte man pro Jahr. Produziert wurde auch in Frankreich und Italien. 1927 kam die erste Junghans-Armbanduhr auf den Markt, in den 1930ern auch eigene Uhrwerke. Im Ersten Weltkrieg produzierte man Zünder für Waffen. 1951 wurde die Firma der größte Hersteller von Chronometern in Deutschland, also besonders präzisen Zeitmessern, 1956 zum drittgrößten der Welt. Man spielte in einer Liga mit Rolex und Omega.

1903 war das Unternehmen mit 3.000 Beschäftigten der größte Uhrenhersteller der Welt. Drei Millionen Uhren verließen pro Jahr die Fabrik.
Foto: Junghans

1956 markierte auch eine erste Zeitenwende in der Geschichte des Unternehmens. Zum einen wurde die Familie Junghans aus dem Unternehmen gedrängt, zum anderen gestaltete der bekannte Bauhaus-Künstler Max Bill eine Küchenuhr für die Schramberger – aus ihr ging die gleichnamige Armbanduhr hervor, die bis heute zu den Bestsellern der Marke zählt. Auch mit dem aus der Gegend stammenden Designer Hartmut Esslinger, der vor allem für seine Arbeiten mit Apple berühmt wurde, arbeitete man zusammen. Heute setze man vor allem auf die eigene, hausinterne Designabteilung, teilt uns Thomas Fiedler an dieser Stelle mit.

Aus dieser Küchenuhr, entworfen von Max Bill im Jahr 1956, entstand die Max Bill-Armbanduhr. Heute eine Design-Ikone im Bauhaus-Stil.
Foto: Junghans

1972 war Junghans der offizielle Zeitnehmer der Olympischen Spiele in München. Ab Mitte der 1970er-Jahre setzte man auf Quarzuhren – die disruptive Technologie hatte von Japan aus die Welt im Sturm erobert und die globale Uhrenindustrie schwer unter Druck gesetzt, Stichwort Quarzkrise. Da half es auch nichts, dass man in Schramberg bereits weit mehr als 150 mechanische Kaliber für Armbanduhren entwickelt hatte.

Umbrüche und Meilensteine

Ein Meilenstein gelang Junghans 1985 als man die erste Tischuhr mit Funktechnologie präsentierte. Später wanderte diese dann in die Armbanduhr – eine Weltpremiere – und wurde seither immer weiter verbessert. Darauf ist man mächtig stolz. "Seit 2018 haben wir ein völlig neues Funkkaliber, das seine Energie auch über Solarzellen beziehen kann", erklärt Matthias Stotz. Für den Funk Solar Chronograf wurde eine eigene, im Haus programmierte App entwickelt. Produziert wird selbstverständlich alles "in-house".

Das Design der Zeitmesser stammt heute vor allem von hauseigenen Gestaltern.
Foto: Junghans

Interessanterweise verkaufen sich die Junghans-Funkuhren besonders gut in Japan, erklärt Stotz. Dort gebe es zum einen zwei Funktürme, die der Uhr per Funksignal die Zeit präzise vorgeben, zum anderen würden die Japaner die deutsche Ästhetik und die Geschichte der Marke sehr schätzen (wie übrigens auch die österreichischen Kundinnen und Kunden, merkt der gelernte Uhrmacher an). Natürlich hat man auch weiterhin die mechanischen Zeitmesser im Blick: Zum 160-jährigen Jubiläum legte die Uhrenfabrik mit der Meister Signatur Handaufzug Edition 160 eine Uhr auf, in der ein historisches Handaufzugswerk tickt. Größere Feierlichkeiten fielen 2021 allerdings der Pandemie zum Opfer.

Insolvenz und Comeback

Welche Pläne hat man noch? "Wenn es soweit ist, dann verraten wir es Ihnen gerne", hält sich Stotz bedeckt und fügt mit einem Augenzwinkern an: "Aber irgendwas hat man ja immer in Planung." Dass man bei Junghans überhaupt an die Zukunft denken kann, danach sah es rund um das Jahr 2008 zunächst nicht aus. Da stand die Uhrenfabrik kurz vor dem Untergang. Der damalige Besitzer der Marke, der Luxusgüterkonzern Egana-Goldpfeil, meldete Konkurs an. Stotz, der da gerade ein Jahr dabei war, erinnert sich an diese Zeit: "Das war einer der schwärzesten Tage hier. Für die Belegschaft und auch für den Ort war es ein Schock", sagte er dem Wirtschaftsmagazin Brand eins, um dann hinzuzufügen: "Rückblickend war die Insolvenz für die Marke ein Glücksfall." Denn damit hatte man plötzlich die volle Aufmerksamkeit der Medien.

Matthias Stotz (links im Bild) ist seit 2007 Geschäftsführer von Junghans. Ihm als zweite Geschäftsführer zur Seite steht seit Kurzem Hannes Steim.
Foto: Junghans

Und auch ein Retter war zur Stelle: Der Unternehmer Hans-Jochem Steim wollte nicht zulassen, dass Junghans in die Hände anderer Investoren fiel oder – schlimmer noch – ganz verschwand. Der Schramberger Ehrenbürger, Oldtimer-Sammler und Multimillionär brachte gemeinsam mit seinem Sohn Hannes Junghans nach einer harten Sanierungskur wieder auf Kurs. Vor allem sollten fortan alle Uhren wieder in Schramberg zusammengebaut werden, auch das Sortiment wurde ausgedünnt. Heute beschäftigt man 110 Mitarbeiter. Sie stellen rund 60.000 Uhren jährlich her. 2020 belief sich der Umsatz auf 19,1 Millionen Euro.

"Die deutsche Uhr"

Man setzt auf drei Säulen: Die mechanischen Uhren der "Meister"-Linie bilden die obere Preisklasse, den Klassiker "Max Bill" gibt es in unterschiedlichen technischen Ausführungen, auch als Quarz- oder Funkuhr. Letztere bilden zusammen mit Solaruhren das dritte Standbein. Verkauft werden die Uhren nur noch im Fachhandel und nicht wie früher an allen möglichen Verkaufsstellen. Der selbstbewusste Claim "die deutsche Uhr" sagt: Man ist wieder jemand in der Uhrenwelt.

Die Max Bill Mega Solar mit der in Schramberg entwickelten Solar-Funk-Technologie.
Foto: Junghans

"Das Wichtigste ist, dass man die Marke spürt. Als solche wollen wir erschwinglich bleiben", sagt Stotz. "Es gibt bei uns selten Ausreißer, die richtig teuer sind." So wie die 2022 präsentierte 1972 Competition Edition, ein Chronograf aus Weißgold, der auf 50 Stück limitiert ist und an die Spiele in München erinnern soll. Zu haben für knapp unter 17.000 Euro und laut Stotz schon ausverkauft. Dennoch: Junghans gehört zu jenen Marken, die das Einstiegssegment nicht vernachlässigt haben. Eine Quarzversionen bekommt man bereits für etwas mehr als 300 Euro, Automatikuhren für knapp über 1.000.

In die Welt

Gerade das scheint aber nicht immer von Vorteil zu sein, zumindest in Krisenzeiten, wie Matthias Stotz feststellen musste: Während der Verwerfungen durch die Pandemie hätten es Zeitmesser in der genannten Preisspanne schwerer gehabt als solche, die im Luxusbereich angesiedelt sind. Was, wie er vermutet, damit zusammenhängt, dass viele potenzielle Junghans-Kunden durch die Pandemie und die momentane Inflation etwas mehr aufs Geld schauen müssen. Aber: "Wir sind zufrieden", sagt der Geschäftsführer abschließend.

Tiefgrün wie der Schwarzwald: Die Meister Chronoscope mit Automatikwerk.
Foto: Junghans

Der Tag ist schnell vergangen, die meisten Uhrmacherinnen und Uhrmacher sind bereits nach Hause gegangen. Es ist Zeit aufzubrechen. Der Regen hat aufgehört, die Abendsonne bricht durch die Wolken und beleuchtet einen überlebensgroßen Schriftzug an einer Hauswand am Ortsausgang. "Von Schramberg in die ganze Welt" ist dort zu lesen, eine Werbung für die Junghans-Funkuhr. Mit diesen Worten entlässt uns die kleine Uhrenstadt mit der großen Geschichte wieder in Richtung Stuttgart. (Markus Böhm, RONDO, 14.1.2023)