Der Tiroler Jurist Andreas Braun erinnert sich im Gastkommentar an seine Zeit im Stiftungsrat. Ein unabhängiger Stiftungsrat? Braun schwankt zwischen Realismus und dem Prinzip Hoffnung.

Ein Auge auf den ORF hat die Politik in Österreich immer geworfen. Kann jetzt eine Entpolitisierung gelingen?
Foto: APA / Herbert Neubauer

Von 2001 bis 2010 gehörte ich dem ORF-Stiftungsrat an. In dieser Funktion fühlte ich mich ausschließlich dem Unternehmen mit seinem öffentlich-rechtlichen Kernauftrag verpflichtet. Als ein "an keine Weisungen und Aufträge gebundenes und mit derselben Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit wie ein Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft" bestelltes Mitglied, wie es in Paragraf 20 des ORF-Gesetzes heißt. Der Fokus dieses Kernauftrags lautet Unabhängigkeit, in Paragraf 4 Absatz 6 klar als Unabhängigkeit von jeglichem staatlichen oder parteipolitischen Einfluss definiert. Zur Sicherstellung dieser Unabhängigkeit wurde ab 2001 mit Paragraf 20 Absatz 3 ein Kreis parteipolitisch affiner Persönlichkeiten von der Bestellung als Mitglied des Stiftungsrates explizit ausgeschlossen.

Mit dem Verweis auf dieses Mandat ignorierte ich beharrlich Einladungen zu Freundeskreisen, Zurufe von Landeshauptleuten und Manuduktionen Khol’scher Prägung. Ich blendete – wie 2010 im STANDARD im Gastkommentar Der ORF als Realsatire angemerkt – meinen österreichischen Hausverstand, wonach sich die Parallelwelten von gesetzlichen Vorschriften, vorauseilenden Hintergedanken und melodischen Worthülsen selbst im Unendlichen nicht treffen, zwar nicht ganz aus, war aber angesichts der zynischen Missachtung der gesetzlich gebotenen Unabhängigkeit durch den überwiegenden Teil der Stiftungsratsmitglieder schlicht fassungslos!

Anbiedernde Beflissenheit

Wie können sich gestandene Persönlichkeiten aus Eigennutz und Feigheit in opportunistischer Ausübung ihres Ehrenamts zu Marionetten parteipolitischer Interessen verzwergen lassen? Wie können sich aufgeklärte Menschen ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zu ziviler Widerständigkeit und selbstständiger Meinungsfindung am Garderobenhaken des Küniglbergs entledigen? Wie können Aufsichtsratsmitglieder den Unternehmenszweck des ihnen anvertrauten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als der wesentlichen demokratischen Bastion einer unabhängigen "vierten Gewalt" durch parteipolitische Packeleien konterkarieren? (Es wäre ja interessant, wenn eine Klage des Unternehmens ORF gegen ein Mitglied des Stiftungsrates wegen Unternehmensschädigung nach Paragraf 20 Absatz 2 ORF-Gesetz ausjudiziert würde.)

Wie können Mitglieder des Stiftungsrats den Modus ihrer Bestellung durch Bund, Länder, Parteien als Verpflichtung zu anbiedernder Beflissenheit gegenüber den entsendenden Institutionen grob fahrlässig missverstehen? Wieso nabeln diese ehrenamtlichen Entscheidungsträger sich nicht – wie vom Gesetz postuliert – von ihren Bestellern ab und stärken eine von der Politik unabhängige Gegenwelt? Wieso ergreifen diese Herrschaften nicht die vom Gesetz eröffnete Chance, der unsäglichen Praxis von Postenschacher und Gegengeschäften den Garaus zu machen?

Die Antwort auf all diese Fragen liegt nahe: extra factiones publicas salus non est. Nur im hermetischen Dunstkreis von politischen Parteien und ähnlichen Netzwerken winkt dem devoten Österreicher Heil und Segen, der Emanzipation zum Citoyen misstraut er zutiefst.

Paroli bieten

Vor diesem Hintergrund stimme ich mit der Feststellung von Alfred J. Noll in seinem STANDARD-Gastkommentar vom 12. November, dass das System ORF verrottet sei, voll überein. Ich frage mich jedoch weiters, ob dieses entgegen all den aktuellen Bemühungen – der Initiative von Armin Wolf zu Artikel 10 EMRK, der Verfassungsklage aus dem Burgenland, der ORF-Gesetz-Novellierung, Diskussionen Im Zentrum oder Büchern zum Thema, siehe Die vierte Gewalt von Richard David Precht und Harald Welzer – etwa sogar unausrottbar ist. Wenn nämlich, wie oben beschrieben, nicht einmal die Stiftungsräte als Mitglieder des obersten ORF-Organs der dreisten parteipolitischen Unterhöhlung Paroli bieten, schwindet die Hoffnung, dass sich bei einer Gesetzesänderung – wie zum Beispiel durch eine personelle Straffung und Qualifizierung des Stiftungsrats – nur das Geringste ändern würde.

"Wäre es denkmöglich, dass alle Stiftungsräte in stiller Scham ihre Freundeskreise zu Grabe tragen?"

Diesem realistischen Szenario schwindender Hoffnung sei das Prinzip Hoffnung eines hoffnungslosen Träumers entgegengehalten: Wäre es denkmöglich, dass alle Stiftungsräte in stiller Scham ihre Freundeskreise umgehend zu Grabe tragen? Wäre es denkmöglich, dass qualifizierte Stiftungsräte und nicht öde Mediensprecher politischer Parteien den Diskurs über unsere mediale Zukunft öffentlich-rechtlichen Zuschnitts steuern? Wäre es denkmöglich, dass sich alle Stiftungsräte einem Fit-and-proper-Test zu unterziehen haben, um in Zukunft sicherzustellen, dass sie über die nötigen fachlichen und juristischen Kenntnisse verfügen? Wäre es denkmöglich, dass sich, vom Stiftungsrat initiiert, der öffentliche Rundfunk unternehmenskulturell neu erfindet, wobei redliche Selbstreflexion und verstärkte Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als zentrale Hebel einer innovativen Transformation der Marke ORF fungieren könnten?

Wer jedoch zu intensiv träumt, den bestraft die Geschichte: 2010 enthob mich der damalige Landeshauptmann Günther Platter meiner Funktion als Tiroler Stiftungsrat und ersetzte mich durch einen vormaligen ÖVP-Parteisekretär und nachmaligen ORF-Tirol-Intendanten. So sind wir halt! (Andreas Braun, 23.11.2022)