Im Frühjahr setzt in Ladakh die Trockenheit ein. Künstliche Eistürme wie dieser sollen die Wasserknappheit über einige Monate hinweg überbrücken.

Foto: Sonam Wangchuk

Man könnte meinen, dass es in den schneebedeckten Bergen des Himalaja genug Wasser gäbe, um in den darunterliegenden Tälern Landwirtschaft betreiben zu können. Doch längst nicht überall am "Dach der Welt" ist das der Fall. Der Monsun bringt zwar viel feuchte Luft Richtung Himalaja. Sie steigt entlang der Südflanken der Berge auf und sorgt dort für hohen Niederschlag, der etwa auch die vielen Zuflüsse des Ganges speist. Während die Südhänge reich an Vegetation sind, leiden die dahinterliegenden Täler aber unter Trockenheit. In der Region Ladakh zwischen Himalaja und Karakorum ganz im Norden Indiens fällt kaum Regen. Hier ist es kalt, windig, aber trocken.

Die Täler hier liegen auf über 3000 Meter Seehöhe. Die Landwirtschaft ist darauf angewiesen, das Wasser der Gletscher anzuzapfen. Doch diese ziehen sich durch den Klimawandel zurück. Zudem büßt der Monsun an Stärke ein. Die ohnehin raren Niederschläge sind noch seltener. Die Folge: Bäche trocknen aus, Seen versalzen, die Bergregion wird zunehmend unbewohnbar.

Ideen für Anpassung

"Die Wasserversorgung wird unberechenbar. Unsere Lebensader verschwindet", sagt Sonam Wangchuk. Er ist hier in Ladakh groß geworden. Seit Jahrzehnten arbeitet der 1966 geborene Techniker und Sozialunternehmer daran, die Lebensumstände in seiner Heimat zu verbessern – durch Bildungsmaßnahmen, durch Tourismus- und Umweltschutzprojekte, aber auch durch technische Neuerungen, die das Leben in der Bergwüste verbessern. Zuletzt stellte er etwa ein solar beheiztes Zelt vor, das er mit Indiens Militär entwickelte.

Eine seiner erfolgreichsten Initiativen zielt auf das Wasserproblem in Ladakh ab. Wangchuk hat sich Gedanken darüber gemacht, wie künstliche Gletscher aussehen könnten, die das Wasser vor Ort möglichst lange speichern. Das Ergebnis sind Eisstupas, hochhausgroße Eiskegel, die der Erfinder nach den bekannten buddhistischen Bauwerken benannte. Wasser wird im Winter von hoch in den Bergen ins Tal geleitet, um hier zu gefrieren. Die Kegelform sorgt dafür, dass das Eis im Frühjahr und Sommer nur langsam abschmilzt.

Wangchuk ist in Ladakh aufgewachsen und studierte Maschinenbau sowie Architektur in Frankreich. In seiner Heimat plant er nun eine "Gletscherwasser-Pipeline".
Foto: Rolex/Stefan Walter

Erste NGO im Alter von 22 Jahren

Wangchuks Engagement für Bildung in seiner Heimat mag mit seinen eigenen Erfahrungen zusammenhängen. Er ging erst mit neun zur Schule, dort machte man es ihm als Angehörigen einer ethnischen Minderheit schwer. Mit elf Jahren flüchtete er allein nach Delhi, um der Schulverwaltung seinen Fall zu schildern. Schließlich studierte er Maschinenbau und ging anschließend nach Frankreich, um in Grenoble eine Ausbildung zu absolvieren, die sich dem Bauen mit natürlichen Rohstoffen widmet.

Bereits 1988, im Alter von 22 Jahren, gründete er seine erste NGO. Mit seinem Students’ Educational and Cultural Movement of Ladakh (Semcol) gelang der Aufbau einer alternativen, selbstverwalteten und nach ökologischen Grundsätzen ausgerichteten Schule in einem Dorf in Ladakh.

Später arbeitete er im Dienste der Regionalverwaltung an einer Reform des Bildungssystems der gesamten Region. Er gründete das erste Printmagazin Ladakhs und arbeitete an einem Netzwerk, durch das regionale NGOs besser kooperieren konnten. Mittlerweile plant er auch den Aufbau einer Hochschule, die Studierenden die Werkzeuge mitgeben soll, die ökologischen Probleme ihres Landes zu lösen.

Kleine Oberfläche

Als Vorbild dafür mögen die Eisstupas dienen, die er seit 2013 gemeinsam mit Semcol-Schülern entwickelte. Frühere Versuche, künstliche Gletscher anzulegen, erwiesen sich in der Region als nicht praktikabel. Sie waren zu hoch oben, um das Wasser gut verwenden zu können, oder schmolzen zu schnell in der Frühlingssonne.

Auch das Abdecken mit Folie – eine Methode, die etwa in den Alpen angewendet wird, um Schnee in Skigebieten zu konservieren – verwarf er wieder. Die Kegelform resultierte schließlich aus dem Gedanken, die Oberfläche des Eisvolumens möglichst gering zu halten, sodass das Eis nur sehr langsam schmilzt.

Sechs Meter hoher Prototyp

Um die Eisstupas wachsen zu lassen, werden Rohre in höher gelegene Bergregionen verlegt. Im Herbst und im Winter, wenn noch mehr Wasser vorhanden ist, wird es aus nicht zugefrorenen Bächen oder Seen abgeleitet, um aus einem Rohr in der Mitte des künftigen Stupas in die Höhe zu sprühen. Es gefriert und lässt die künstlichen Eisberge wachsen. Das System ist dabei so gestaltet, dass keine Pumpen oder anderen technischen Geräte zum Einsatz kommen müssen. "Die einzigen Zutaten sind Gefälle und ein Fließen nach unten und nach oben", resümiert Wangchuk in einem CNN-Beitrag.

Wangchuk nutzt natürliche Materialien wie Büsche, um die Eisbildung zu starten.
Foto: Rolex/Stefan Walter

Ein erster, sechs Meter hoher Prototyp hielt das Wasser immerhin bis Mitte Mai verfügbar. Üblicherweise sind spätestens Ende März auch die letzten Rinnsale vom Berg herunter ausgetrocknet. Für einen weiteren Stupa, der gemeinsam mit einem Kloster umgesetzt wurde, musste – zur Finanzierung der Rohrleitungen – zuerst eine Crowdfundingkampagne gestartet werden. Das in dem 20 Meter hohen Eiskegel gesammelte Schmelzwasser konnte bereits eine Plantage von 5000 Bäumen bis in den Juli hinein versorgen – Bäume, die sonst niemals in dieser Umgebung gedeihen würden.

Eisbars für Touristen

Mit zunehmender Erfahrung werden die Systeme ausgereifter. Ein Ziel ist, Wartungsarbeiten wie das Auftauen zugefrorener Leitungen möglichst gering zu halten. Eine der Ideen Wangchuks ist auch, eigene Eisgebilde für touristische Zwecke anzulegen – als Eisbars- und -hotels. Auch eine Himalaja-Version von "Urlaub am Bauernhof" hat er bereits ins Leben gerufen. 2016 folgte er einer Einladung in die Schweiz, um auch dort als Touristenattraktion eine Stupa zu gestalten. Im selben Jahr wurde dem Erfinder ein hochdotierter Preis für Unternehmungsgeist der Uhrenmarke Rolex zugesprochen – Geld, das er in die weitere Entwicklung seiner Idee stecken konnte. Heute arbeitet er an einer "Gletscherwasser-Pipeline", die insgesamt 50 Eisstupas in ganz Ladakh versorgen soll.

In der Arbeit mit der einheimischen Bevölkerung sieht sich Wangchuk auch als Vermittler der Kulturen. "Wir wollten innovative Technik mit traditionellem Wissen und traditionellen Praktiken verbinden, denn allein mit technischen Ansätzen wird sich der Klimawandel nicht lösen lassen", sagt der Erfinder, der die Einwohner Ladakhs vor einem künftigen Schicksal als Klimaflüchlinge bewahren will: "Wir müssen uns an die Veränderungen anpassen, damit auch die nächste Generation hier in diesen Bergen wachsen und gedeihen kann." (Alois Pumhösel, 25.11.2022)