Die Digitalisierung von Kunstschätzen bietet völlig neue, immersive Zugänge, wie diese Van-Gogh-Ausstellung mit riesigen Projektionen in Guatemala-Stadt beweist.
Foto: Esteban Biba / EPA

Für Ausflüge in die Vergangenheit fühlten sich die Geisteswissenschaften immer schon zuständig. Bei der Digitalisierung ihrer Schätze in Archiven und Bibliotheken waren sie lange Zeit aber keine Vorreiter. Günter Mühlberger, Leiter des Zentrums für Digital Humanities an der Universität Innsbruck, führt die Vorbehalte hinsichtlich neuer Technologien auf ein Verständnis der Wissenschaft im Elfenbeinturm zurück. "Das kann man kritisieren", sagte er am Montag in der Diskussionsreihe Science Talk, die vom Wissenschaftsministerium veranstaltet wird.

Auf dem Podium bringt man dafür aber auch Verständnis auf. Der Historiker Thomas Aigner, Direktor des Diözesanarchivs St. Pölten, gibt an, dass er während seiner Ausbildung sehr auf das "sichere Verwahren" seiner archivarischen Schätze sozialisiert wurde. Um das zu ändern, brauchte es ein "digitales Erweckungserlebnis." Das hatte er in den 1990er-Jahren, als er im Diözesanarchiv St. Pölten auf dem ersten Flachbettscanner ein Digitalisat eines Matrikelbuches produzierte. "Dass der Scan Texterkennung beherrschte, war frappierend. Lange war ich dennoch der Meinung, wir geben das in den Lesesaal, aber ins Internet stellen werden wir das nie."

Plädoyer für freien Zugang

Heute ist Aigner Vorstand des Forschungsverbundes Icarus, dem 160 Archive weltweit angehören, und betreibt darüber gemeinsam mit dem St. Pöltner Diözesanarchiv die Plattform Matricula. Diese digitalisiert die historischen kirchlichen Tauf- und Sterbebücher aus dem gesamten mitteleuropäischen Raum und stellt sie Suchenden online gratis zur Verfügung.

"Wir sind jetzt mit unserem eher kleinen Diözesanarchiv zu einem Global Player geworden." Denn die Matrikelbücher faszinieren nicht nur eingeschworene Expertenkreise, sondern weltweit Menschen, die sich mit Geschichte und der eigenen Ahnenforschung beschäftigen. Daraus haben einige kommerzielle Plattformen wie ancestry.com oder familysearch.org ein Geschäftsmodell gemacht. "Wir aber wollen unsere Digitalisate weiterhin kostenlos anbieten." Denn die Daten öffentlicher Institutionen wie der Kirche gehörten der Allgemeinheit, und der freie Zugang bringe die Möglichkeit der Breitenwirkung.

Die Maske des altägyptischen Königs Tutanchamun genießt seit ihrer Ausgrabung 1922 durch Howard Carter einen hohen Bekanntheitsgrad.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Dieses Credo teilt auch Mühlberger. Er betreibt an der Universität Innsbruck die aus mehreren europäischen Forschungsprojekten hervorgegangene Plattform Transkribus. Diese stellt Interessierten kostenlos eine Schrifterkennungssoftware zur Verfügung, die mithilfe künstlicher Intelligenz Handschriften mit großer Genauigkeit in digitalen Text umwandeln kann.

Demokratisierung und Kollaboration

Die Nachfrage nach solchen Hilfsmitteln ist beachtlich. Mittlerweile zählt man auf Transkribus 100.000 registrierte Personen, sagt Mühlberger. "Immer wieder erhalten wir Dankesmails, etwa von Auswanderern, weil sie so die in Kurrentschrift geschriebenen Briefe ihrer Urgroßeltern entziffern konnten."

Big Data, also der Datenschatz aus der Vergangenheit, birgt laut Ansicht der Fachleute viele Möglichkeiten abseits kommerzieller Interessen: neue Formen der Wissensvermittlung in Museen etwa, aber auch Möglichkeiten der Demokratisierung des kulturellen Erbes sowie kollaborative Wissenschaft. Denn sind die Daten erst einmal online, könnten Menschen selbstständig daraus neue Verknüpfungen produzieren, sagt der Archäologe Stefan Eichert. Er ist am Naturhistorischen Museum Wien für digitale Archäologie zuständig.

Historische Gebäude in 3D

Gemeinsam mit dem Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betreibt er Thanados, ein neues Onlineportal, mit dem er das "dunkle Frühmittelalter" zum Leben erweckt. "Mittelalterliche Friedhöfe, Gräber und Grabbeigaben werden von Archäologen seit 170 Jahren erforscht. Jetzt kann man ihre Forschungsschätze kostenfrei am Handy einsehen." Das könne anregend wirken, meint Eichert, "auch um mehr über die eigene regionale Geschichte zu recherchieren".

Wohin die Reise gehen soll? Noch befänden wir uns in der "digitalen Steinzeit", sagt Archivar Aigner. "Die Erstellung von Inhalten muss schneller und billiger werden." Digitalisiert werden soll jedenfalls das gesamte kulturelle Erbe. "Heute digitalisieren wir erst Texte. In Zukunft werden wir mittels 3D-Scan-Software auch Objekte und Gebäude digitalisieren können."

Historische Gebäude, Kirchen und Objekte in Museen, aber auch Wissensvermittlung und Zeitreisen in die Vergangenheit könnten damit noch spannender werden. Laut Mühlberger wartet aber auch bei der Textdigitalisierung noch eine Herkulesaufgabe. Allein das Österreichische Staatsarchiv verwahrt Dokumente auf 300 Kilometer Regallänge. "Das werden wir händisch nicht schaffen, da müssen Roboter helfen." Soll heißen: Mehr Geld für die Digitalisierung ist vonnöten. (Norbert Regitnig-Tillian, 28.11.2022)